Ein kleines Dorf gerät aufgrund eines alarmierenden Falles von Tierhortung in die Schlagzeilen. Das Land hat mit Dorfbewohnern, Tierschützern und Tierärzten gesprochen

Die 400 Meerschweinchen von Vichten

d'Lëtzebuerger Land du 20.12.2024

Die Meldung schlug Wellen: Am 30. September wurden in einem Haushalt in Vichten mehr als 400 Meerschweinchen beschlagnahmt. Auch fand man 16 Kaninchen, vier Hühner, vier Tauben und drei Enten im Haus. Polizeibeamte und Mitarbeiter der Veterinär- und Lebensmittelverwaltung (Alva) waren vor Ort, sowie Tierschützer vom Privaten Déiereschutz. Vor dem Haus konnten Dorfbewohner sehen, wie zahlreiche Tiere in Käfigen aus der Wohnung getragen wurden.

Die Medien berichteten über den Vorfall, doch wie gewohnt drehte sich der Nachrichtenzyklus schnell weiter. So unerwartet, wie die Meerschweinchen in den Schlagzeilen aufgetaucht waren, gerieten sie wieder in Vergessenheit.

Für Tierärzte und Tierschützer fing der Albtraum an diesem Herbsttag allerdings erst an. Die Tiere, die eingefangen werden konnten, wurden vor Ort von einem Tierarzt sortiert, um dann mit Hilfe vom Privaten Déiereschutz an andere Ärzte und Pflegestellen weitergeleitet zu werden. „Ich war sehr schockiert“, sagt eine Fachperson aus der Tiermedizin, die am selben Tag eine erste Gruppe von Nagern behandelte. Neben Hautwunden hatten viele Tiere angeborene Defekte, wie Gebissanomalien und Körperdeformationen, sagt sie. „Man muss ja bedenken, dass es sich hier um Inzucht handelte.“ Auch wurden viele tote Tiere gefunden.

Am ersten Tag musste die Fachperson rund 25 Tiere einschläfern. Die Prozedur nimmt viel Zeit in Anspruch, denn sie wird akribisch dokumentiert – vom Einschläfern bis zur Entsorgung des Körpers.

Die Behandlung der Meerschweinchen war ein Rennen gegen die Zeit: Waren die ersten Tiere erlöst, musste man sich um die kümmern, die noch Überlebenschancen hatten. Bisswunden wurden gereinigt, Antibiotika verabreicht, verwachsene Krallen geschnitten. Gleichzeitig kamen neue Kleintiere zur Welt, denn viele Tiere waren schwanger. Die Kleinen wiederum würden nach drei Wochen geschlechtsreif werden und mussten sortiert werden.

Die Verwaltung der Tiere war eine logistische Herausforderung. Der Einsatz der freiwilligen Tierschützer war dabei unentbehrlich. „Das Engagement vom Privaten Déiereschutz – ich habe keine Worte, um zu beschreiben, was die für eine Arbeit geleistet haben“, erklärt die Fachperson dem Land.

Der Fall von Vichten, an dem sie wochenlang arbeitete, habe sie tief getroffen. „Das ging mir richtig an die Substanz, sowas trägt man lange mit sich herum.“ Als großer Tierfreund stellte sie sich auch Fragen über das Leben der kleinen Rudeltiere. „Es muss schlimm gewesen sein für die Tiere, die ja ein Sozialleben haben.“ Ob Tiere getrennt wurden, die eigentlich miteinander lebten? „Bei 400 Tieren kann man ja nicht wissen, wer zu wem gehört. Das hat mich sehr beschäftigt.“ Die Pflege, obwohl sehr anstrengend, war für sie jedoch auch erfüllend. „Es war immer schön zu sehen, wenn es einem Tier am Tag drauf besser ging, und es weg konnte.“

Die Tiere wurden vom Privaten Déiereschutz vermittelt, der unter anderem mit dem Pflegezentrum für Wildtiere in Düdelingen zusammenarbeitet. Das Zentrum konnte Meerschweinchen auch in Parks im nahen Ausland vermitteln, wo die Tiere nun viel Auslauf genießen können. „Dort kommen sie wieder zu sich, weiterhin kontrolliert werden sie auch.“ In Luxemburg gebe es keine Organisation, die sich ausschließlich auf Meerschweinchen spezialisiert hat.

Die Tierschützerin hatte sich bis jetzt nicht öffentlich zum Fall geäußert. Das lag auch an der Berichterstattung, die im Oktober folgte. Tierschutzorganisationen, die nicht von Behörden über den Fall benachrichtigt wurden, sprachen von Geheimniskrämerei. In einer auf
rtl.lu veröffentlichten Pressemitteilung stellte Déieren an Nout Fragen, die einen verschwörerischen Ton hatten. Ob „Tiere entsorgt, anstatt behandelt“ worden seien? Ob man den Vorfall geheimhalten wollte, um den Tiersammler zu schonen? „Wohl kaum, in diesen Fällen macht das sowieso schnell die Runde im Dorf“, antwortete man sich selbst. Dem Wort sagte eine Tierschützerin des Vereins, sie habe sich an die Presse gewandt, weil sie das Gefühl hatte, „dass da etwas nicht stimmt“.

Marie-Anne Heinen spricht nicht gerne über diese Äußerungen. Sie betont jedoch, dass Tierärzte entscheiden müssten, welche Tiere eingeschläfert werden, und dass dies nie ohne Berechtigung geschehe. „Zum Tierschutz gehört eben auch, dass manche Tiere erlöst werden müssen“, sagt sie.

Das Bekanntmachen der Tierhalter in Fällen wie diesen kann oft zu einer Hetzjagd führen. Was die Arbeit der Tierschützer erschwert, vor allem wenn Menschen sich in prekären Lebenssituationen befinden. Die Besitzer der Meerschweinchen in Vichten hatten mit den Behörden kooperiert. Quellen zufolge war die Familie sogar erleichtert, dass den Tieren geholfen wurde. Trotzdem sei es zu verbalen Attacken gegen sie gekommen, sagt Marie-Anne Heinen (das Land konnte diese Information nicht überprüfen).

Auch besteht immer das Risiko, dass Tierschützer Falschmeldungen erhalten. Eine Veröffentlichung dieser Informationen könnte Mensch und Tier schaden. „Manchmal wird aus schlechtem Willen gehandelt, um jemandem eins auszuwischen“, so Heinen. „Deshalb ist es wichtig, dass Tierärzte sich vor Ort ein Bild von der Lage machen.“

In seiner Arbeit konzentriere der Verein sich auf die Tiere, auch in Vichten. „Über die Familie haben wir uns nicht weiter informiert“, so Marie-Anne Heinen. „Wir haken da nicht nach. Wir haben geholfen, das war’s.“ Die Kritik geht in solchen Fällen oft in sozialen Medien von Gruppen aus, wo der Déiereschutz nur begrenzt aktiv ist. „Es gibt Menschen, die sich auf Facebook richtig auslassen und bösartig werden“, sagt Heinen. „Wir haben jedoch keine Wahl, wir müssen auf Facebook sein. Denn ohne diese Präsenz gerät man in Vergessenheit“, sagt sie.

Auch die Person, die am ersten Tag Tiere einschläfern musste, wollte anonym bleiben, um sich zu schützen. „Ich bin nicht auf Facebook und glaube, das ist besser so. Ich will nicht wissen, was da geschrieben wird“, sagt sie.

Das Interesse an den Vichtener Meerschweinchen war groß. „Leute, die wissen, dass ich hier wohne, haben gefragt: Was ist denn bei euch in Vichten los?“, erzählt eine Einwohnerin. Sie selbst sei ebenfalls sehr erschrocken gewesen, als sie von dem Fall hörte. Andere Dorfbewohner erfuhren erst aus den Medien, was sich unweit von ihnen abgespielt hatte.

Wie konnte eine Situation so ausarten? Und wie steht es um das soziale Gefüge eines Dorfes, wenn Tiere – und man muss wohl auch von Menschen ausgehen – so lange abgeschottet leiden? Vichtens Einwohnerzahl stieg in neun Jahren von 1 088 auf 1 422 Einwohner, ein Zuwachs um gut 30 Prozent. Eine ehemalige Einwohnerin sagt, gelegentlich würden Unterschiede zwischen „alten Vichtenern“ und „Zugezogenen“ gemacht. Für Dorfleute seien solche Diskussiounen „nicht überraschend“.

Der Umgang mit kleinen Haustieren habe sich in Luxemburg stark verändert, so Marie-Anne Heinen. 2019 nahm der Private Déiereschutz sechs Meerschweinchen und 77 Kaninchen auf. Ein Jahr später waren es 50 Meerschweinchen und 249 Kaninchen. „Die Menschen haben viel weniger Respekt vor Tieren. Das war schon vor der Pandemie so“, meint Marie-Anne Heinen.

Sie hofft, dass bis zum Ende des Jahres für alle geretteten Meerschweinchen von Vichten ein neues Zuhause gefunden wird. Dass es diesmal ein artgerechtes sein wird, dessen haben sich Tierschützer und Tierärzte vergewissert. Die Fachperson aus der Tiermedizin nennt ein Beispiel, das ihr besonders gefällt: Eine Gruppe der Tiere fand ihr neues Zuhause auf einem pädagogischen Tierhof im Norden des Landes. „Die leben nun wie Gott in Frankreich“, sagt sie.

Claire Barthelemy
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