Die Entscheidung, die Geschichte der Luxemburger Presse entlang einer Chronologie der Erstveröffentlichung der jeweiligen Zeitungen von 1704 bis in die Gegenwart zu schreiben, ist zugleich Stärke und Schwäche dieser Publikation. Die empirisch-historische Analyse entwirft in elf zeitlich geordneten Kapiteln, die zugleich elf Kategorien einführen, die es erlauben, die geschichtliche Abfolge mit dem Funktionswandel bzw. dem gesellschaftlichen Status der Zeitungen zu verbinden, eine exakte Beschreibung der "evolutionären Ausdifferenzierung" (Hörisch) des ersten Massenmediums der Geschichte in einem vom bürgerlichen Weltbild erst relativ spät erfassten kleinen Agrarland. Diese Ausdifferenzierung wird zum einen in einem knappen Exkurs am Anfang jedes Kapitels in einer allgemeinen Perspektive dargestellt und anschließend mit einer Charakterisierung der innerhalb dieser Periode publizierten Blätter fortgesetzt. Da nun die Lektüre von Einzelfall zu Einzelfall voranschreitet, bleibt wenig Raum für vergleichende, soziologische und medientheoretische Überlegungen, etwa zum, von den Zeitungen mitgetragenen "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Habermas), oder zum vom Formal-Technischen des Printmediums ermöglichte Vermischung von Genres, von Faktum und Fiktum, aber auch zu den vom Medium in seiner Vervielfältigung provozierten unterschiedlichen Realitätsversionen bspw. eines politischen Ereignisses. Doch Hilgert argumentiert im Vorwort berechtigt, dass sein Unternehmen einer Geschichtsschreibung der Luxemburger Presse wenig Vorläufer kennt und er also nur Bausteine einer solchen Geschichtsschreibung vorlegen kann, in der Hoffnung, ihre weitere Erforschung anzuregen. Das Buch beschreibt die drei großen Phasen der Luxemburger Presse: die ersten hundert Jahre kennen Luxemburg vor allem als Produktionsort von Zeitungen mit stark politisch-moralischen Inhalten, gelesen werden sie allerdings im französischen Umland (die erste deutsche Zeitung erscheint übrigens genau 100 Jahre früher, 1605, in Strassburg). Erst das 19. Jahrhundert bildet ein "kulturräsonierendes Publikum" im Land selbst aus, welches auf eine quantitativ reiche Lokalpresse ebenso wie auf große, auch liberale Zeitungen zugreifen kann. Nach dem zweiten Weltkrieg verhärtet sich die Presselandschaft zu vier parteinahen Zeitungen, die in den letzten Jahrzehnten allerdings kaum jener Richtung eines „investigativen Journalismus“ gefolgt sind, die die bürgerlich-liberale Presse anderswo in Konkurrenz zu Radio, Fernsehen und Internet ausgebildet hat. Hilgerts Studie liest sich - vor allem entlang der den Kapiteln vorangestellten Übersichten - gleichfalls als Spiegel der politischen Geschichte des Landes, die wiederum ein Reflex der wechselseitigen Beeinflussung von Demokratisierung und Mediatisierung ist. Die großen Daten der Etablierung der bürgerlichen Klasse bzw. ihres Rechtsstaates laufen parallel zum Reifeprozess der Presse: 1795-1815 Politisierung der Gesellschaft, 1848 Sieg der Pressefreiheit, das "goldene Zeitalter" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der nationalen Unabhängigkeit, der industriellen Revolution, dem Primärschulgesetz.., die Radikalisierung in den beiden Weltkriegen und die Begründung einer parteipolitischen Gesinnungspresse ab 1945. Gerade die verwirrende Vielzahl der Tages- und Wochenzeitungen - jeder größere Ort hatte seine, jede Interessensvertretung hatte ihre Zeitung -, die ab den 20-er Jahren des 19. Jahrhunderts erscheinen, lässt die großen gesellschaftlichen Umwälzungen ahnen, die Luxemburg zur Aufklärung, zum Liberalismus, zur Konkurrenz der Ideologien trieben. Die "Nachricht" wird zu einem exzellenten Bindeglied in der politischen Mobilisierung des Landes. Die minutiöse Darstellung der oftmals kurzen Existenz aller möglichen Zeitungen liest sich wie ein krimihaftes Stück Zeitgeschichte. Dennoch stellen sich bald Fragen nach den "Bewegungsursachen" dieses Treibens. Gründe und Motive der Herausgeber, Redakteure, Verleger werden wohl aufgedeckt und beschrieben, aber der tatsächliche, vom Massenmedium selbst mitbedingte Umbruch, die Transformationen innerhalb der Strukturen der republikanischen Staatsentwicklung werden nicht analysiert. Tatsache ist, dass das Zeitungswesen Demokratisierungsprozessen in den westlichen Gesellschaften folgte, zugleich aber auch selbst Antrieb dieser Prozesse war. Über das Massenmedium gewann das Volk seine neue Rolle als "Publikum" und "Akteur", als Institution der Privatleute gegen die Machtinteressen der Staatsführung. Zum anderen vermittelt die durch die Zeitung anwachsende politische Öffentlichkeit den Staat mit den Bedürfnissen der Gesellschaft, die sich selbst zunehmend als eine Versammlung von "Individuen" wahrnimmt. Das Publikum macht sich, in bester aufgeklärter Absicht, in den Zeitungen selbst zum Thema. "Selbstdenken" wird mit "Lautdenken" gleichgesetzt. Publizität gehört, wie Habermas ausführt, zum Prinzip der Kontrolle, mit der das bürgerliche Publikum Herrschaft als solche verändern will. Ein wesentlicher Einschnitt erfährt diese Entwicklung mit der stärker werdenden Wechselwirkung von redaktionellem Teil und Annoncenteil. Privilegierte Privatinteressen beginnen die redaktionell-inhaltliche Arbeit zu manipulieren und zu kontrollieren. Die Zeitungen werden hinfort nicht nur von politischen, sondern auch von Kapitalinteressen abhängig. Romain Hilgerts Buch präsentiert detailreich und in einer ansprechenden Graphik die geschichtliche Entfaltung der Luxemburger Presse entlang ihrer Exponenten. Wesentlich mehr als ein "unvollständiges Album", ist zu hoffen, dass die Studie als Grundlage weiterführender Forschung zur Sozial- und Kulturgeschichte des Landes dienen wird.
Romain Hilgert: Zeitungen in Luxemburg 1704-2004. Luxemburg, Service information et presse 2004, 258 S., 20 Euro. - Eine französische Übersetzung erscheint Anfang Februar. Die Ausstellung zum Thema im Mansfeld-Saal der Nationalbibliothek ist noch bis zum 31. Dezember geöffnet, dienstags bis freitags von 10.30 bis 18.30 Uhr, samstags von 9.00 bis 12.00 Uhr.