Seit zwei Jahren versucht Michel Barnier, Chefunterhändler der Europäischen Union im Brexit-Verfahren, den Ausstieg Großbritanniens aus der EU in geregelte Bahnen zu lenken. Nach dem Sondergipfel der Europaminister der verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten machte er am Dienstag dieser Woche – in betonter Gelassenheit – klar, dass es für die EU nie und nimmer einen „No Deal“-Brexit geben werde. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Alle Verantwortung für das Scheitern und das Gelingen liegt bei London, das zwischen zwei Optionen entscheiden kann: „Sie können den Brexit-Prozess stoppen, indem sie das Austrittsgesuch nach Artikel 50 des EU-Vertrags zurückziehen, oder sie stimmen für das Austrittsabkommen, wenn sie den „No Deal“ vermeiden möchten“, erklärte Barnier am Dienstag in Brüssel.
Generell zeigt sich Europa einer weiteren Brexit-Verschiebung aufgeschlossen gegenüber. Nur: Bedingungslos wird es diese nicht geben. „Jede Verlängerung sollte einem Zweck dienen“, so Barnier. Und: „Die Dauer sollte verhältnismäßig zum Ziel sein.“ Einen weiteren Aufschub, um britischen Parlamentariern bei ergebnislosen Debatten und Abstimmungen zuzuschauen, wird es nicht geben. Eine Verschiebung komme in Frage, wenn sich Premierministerin Theresa May mit Labour über das Austrittsabkommen verständigen kann und es doch noch eine Mehrheit dafür im Londoner Unterhaus geben wird. Um dies zu unterstützen, ist die EU auch bereit, die politische Erklärung gemäß dem Ergebnis der Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition in London anzupassen.
Nach zähem Ringen am Mittwochabend gilt als neue Deadline spätestens der 31. Oktober. Dabei muss es jedoch regelmäßige Überprüfungen und Meilensteine für London geben, um den Brexit nicht zu einer unendlichen Geschichte zu machen. Kurze Zeit sah es so aus, als bräche die Front der 27 doch noch auf. Vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron sprach sich für einen schnelleren Abschied des Vereinigten Königreichs aus der EU aus. Andere Länder, darunter Deutschland, wollten Großbritannien mehr Zeit geben. Die Briten müssen einen Kompromiss finden, sonst verpflichten sie sich dazu, an den Europawahlen Ende Mai teilzunehmen. Andererseits ist klar, dass das Austrittsabkommen nicht nachverhandelt werden wird. Premierminister Theresa May bekam also einen kleinen Trumpf in die Hand: Großbritannien müsse die EU so schnell wie möglich mit einem Abkommen verlassen, sagte sie nach den Gesprächen mit den 27 EU-Mitgliedstaaten. Ratifiziere das britische Parlament ihren Deal vor dem 22. Mai, müsse das Königreich nicht mehr an den Europa-Wahlen teilnehmen.
In Brüssel wächst derweil die Erkenntnis, dass die Lage nicht besser werden wird, wenn man Theresa May nicht entgegenkommt. Es ist klar, dass May eine Premierministerin auf Abruf ist, doch immerhin bringt sie noch den Willen und die Kraft – wenn auch verspätet – auf, eine Lösung zu finden. Zwar hat sie noch nicht einleuchtend erklären können, wie denn die Einigung mit Labour aussehen wird, doch alleine die Tatsache, dass sie mit der Opposition verhandelt, macht klar, dass auch May unbedingt einen „No Deal“-Brexit verhindern möchte. Die EU muss nun die richtige Verhandlungstaktik finden, die auf der einen Seite den Druck auf London aufrechterhält, um endlich zu einem Brexit-Abschluss zu kommen, den es eben nur zu den beiden Bedingungen gibt, dass der Brexit entweder abgesagt wird oder nach dem Austrittsabkommen verläuft. Auf der anderen Seite muss den Briten genügend Zeit eingeräumt werden, um zu der Entscheidung zu kommen. Egal wie groß Frust und Ungeduld auch inzwischen sind. Eine langfristige Vertagung käme auch denjenigen EU-Ländern zugute, die sich gerne für ein paar Monate Ruhe vom Brexit-Drama wünschen.
Doch wie lange die Europäer auf Theresa May setzen können, ist ungewiss. Ihre Tour nach Berlin und Paris vor dem EU-Krisengipfel wurden von ihren Gegnern als „um Gnade betteln“ abgetan. Kurz vor ihrer Abreise forderte eine Delegation des sogenannten 1922-er-Komitees der Hinterbänkler May zum Rücktritt auf. Andere konservative Politiker forderten, dass das Kabinett May den Stuhl umgehend vor die Tür stellen müsse, weil man sie sonst nicht aus dem Haus bekäme. Andere kündigten an, was die künftige Taktik des Vereinigten Königreichs sein werden, wenn man gezwungen würde, noch für einen längeren Zeitraum in der EU zu bleiben: „Wenn man uns gegen unseren Willen in der EU hält, werden wir zum Trojanischen Pferd. Wir werden unser Veto einlegen, wo es geht, und die Pläne der EU stören, wo wir können“, sagte der Tory-Abgeordnete Mark Francois.
Und außerdem? Beim Treffen in Luxemburg haben die verschiedenen Europaminister auch noch über jene Themen beraten, die derzeit vom Brexit übertönt werden: Zentrale Zukunftsfragen für die EU sind dabei der Abbau von Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn. Hier entscheidet sich, ob die Europäische Union eine Wertegemeinschaft bleibt oder sich zu einem bloßen Handelsbündnis herabstuft. Angesichts der aktuellen Entwicklung in den beiden Ländern ist die Einstellung des Artikel-7-Verfahrens gegen Warschau und Budapest derzeit undenkbar. Das Verfahren kann zu einem Entzug des Stimmrechts führen. Darüber hinaus beginnen die Haushaltskonsultationen für die Jahre 2021 bis 2027, bei denen die Kommission die Vergabe von Strukturfördergeldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien knüpfen möchte. Die Debatte verlief nach den altbekannten Mustern, während Frankreich, Deutschland und die skandinavischen Mitgliedsstaaten dafür votierten, diesen Worten in Polen und Ungarn Taten folgen zu lassen, unterstellten diese beide Staaten, sie würden nur attackiert, weil sie Osteuropäer seien.