Ein Gespenst geht um in der Regierung. Eines, von dem alle Welt redet, aber das bislang noch niemand gesehen haben will. Sein Name lautet selektive Sozialpolitik. Zuletzt hatte Finanzminister Luc Frieden in seiner Rede im September zum Haushaltsentwurf 2010 gewarnt, dass die Sozialausgaben zu hoch seien. Genauere Angaben dazu, wo gespart werden soll, machte er nicht. „Das ist eine Fata Morgana“, ärgert sich LSAP-Fraktionspräsident Lucien Lux: „Man müsste gucken, was jeder darunter versteht. Aber bisher weiß niemand Konkretes.“
Für eine Fata Morgana ist der Begriff ganz schön präsent. Seit der Tripartite 2006, als die Regierung sich gemeinsam mit den Sozialpartnern darauf einigte, Sozialtransfers künftig vor allem Gering- und Kleinverdienern zukommen zu lassen, und erst recht seit der Wirtschaftskrise ist er aus dem politischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Aus der Rede zur Lage der Nation im Mai nicht, als Staatsminister Jean-Claude Juncker (CSV) beteuerte, das Sozialsystem nicht „mit dem dicken Hammer“ zerschlagen, sondern mit dem „Schraubenzieher einzelne Schrauben“ nachziehen zu wollen. Und auch nicht aus der Regierungserklärung, als er vor „totalem Reformimmobilismus“ warnte und beschwor, ein „verantwortlicher Sozialumbau heute“ verhindere den „radikalen Sozialabbau morgen“. Über eine selektivere Ausrichtung der Sozialausgaben werde man mit den Sozialpartnern beraten – ein Angebot, das vor allem die Arbeitgeber erfreut (siehe Seite 12-13).
Unterstützung für ihren Kurs bekam die CSV vom sozialistischen Koalitionspartner, als Außenminister Jean Asselborn noch am Wahlabend dem selektiven Sozialstaat das Wort redete – um dann kurz darauf zu versprechen, Sozialabbau werde es mit der LSAP nicht geben. Seitdem wartet alle Welt gebannt darauf, wie die schwarz-rote Version „verantwortlicher Sozialpolitik“ wohl aussehen wird. Spätestens 2010, wenn die Exit-Strategie aus der Wirtschaftskrise vorgestellt werden soll, wisse man mehr, heißt es vage.
Viel Geheimniskrämerei also um ein Konzept, das beileibe nicht neu ist. Die „selektive Sozialpolitik“, von Soziologen auch „investiver“ oder „aktivierender Sozialstaat“ genannt, ist seit 2000 erklärtes Leitbild der europäischen Sozialpolitik. Mit der Lissabonner Erklärung hat die Europäische Union die Modernisierung der Sozialsysteme in den Mitgliedsländern zu ihrer Hauptanliegen erkoren und die Weiterentwicklung zum „aktiven und dynamischen Wohlfahrtsstaat“ proklamiert. Mit Verweis auf die Wissensgesellschaft und den globalen Wettbewerb fordert der EU-Sozialkommissar Vladimir Spidla, die Anpassung der Sozialversicherungssysteme.
Luxemburg ist da keine Ausnahme, auch wenn der Umbau noch etwas zögerlich und zuweilen widersprüchlich anläuft. Mit dem Stichwort „employability“ warb noch der alte Arbeitsminister François Biltgen für mehr Mobilität unter luxemburgischen Studenten, sein Indura-Projekt, das Langzeitarbeitslosen helfen soll(te), über mehr Beratung und Kontrolle in den ersten Arbeitsmarkt wiedereinzugliedern, und sie dafür in unterschiedlich zu fördernde (förderungswürdige?) Gruppen einteilt, argumentiert mit dem Leitmotiv des „Förderns und Forderns“.
Dieselbe Logik findet sich bei den Beschäftigungsmaßnahmen für Jugendliche: Mit staatlicher Unterstützung sollen Jugendliche über Praktika den Weg in den Arbeitsmarkt finden, sich fit machen für die Erfordernisse der Berufswelt. Noch ist die Wirkkraft des Gesetzes nicht bewiesen, ersten Zahlen zufolge hält sich die Begeisterung für das Instrument in Grenzen, trotzdem soll es auf arbeitslose Studenten ausgedehnt werden. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hatte der glücklose damalige Arbeitsminister Biltgen kurz vor Amtsende deponiert; das Parlament soll es noch vor Ende des Monats verabschieden.
Zum Umbau gehört, dass sozial- und familienpolitische Leistungen stärker an die Bedürftigkeit gebunden werden sollen. Die Umwandlung von Steuerfreibeträgen in Steuergutschriften, vom ehemaligen LSAP-Fraktionschef Ben Fayot als „Durchbruch für eine sozialere Umverteilung“ gelobt, bringt in erster Linie Geringverdienern mehr Geld, paast allerdings nicht ganz zum Motto „Sachleistung statt Geldleistung“. Das kommt zum Tragen bei den Chèques services, laut Regierung geschaffen, um insbesondere sozial schwachen Kindern Betreuung und Förderung zu ermöglichen, und ist zumindest zwiespältig: Grenzgänger allerdings sind davon ausgenommen, und hinter dem Sachleistungsprinzip steht die fragwürdige Denkfigur, (sozial schwache) Eltern würden Transferzahlungen nicht im Interesse ihrer Kinder einsetzen. Bisher ist noch gar nicht sicher, ob die Dienstleistungsschecks tatsächlich den Schwachen der Gesellschaft am meisten dient und ob der „soziale Mix“ klappt, gleichwohl hat Fami-lienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) angekündigt, die Maßnahme auf Musikschulen, auf Sportvereine und anderes auszudehnen.
Vorschläge dazu liefert die katholische Wohlfahrtsorganisation Caritas. Im Sozialalmanach 2009, mit dem Titel Nachhaltigkeit der sozialen Sicherung, eine Formel, die Jean-Claude Juncker in der Reigerungserklärung aufgriff, listen Caritas-Sozialexperten eine ganze Reihe von Empfehlungen auf, wie sozial- und familienpolitische Maßnahmen künftig umgebaut werden können. Ein staatlich subventionierter Kombilohn soll mehr Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor schaffen, vorrangig gedacht für die „heimische Arbeitnehmerschaft“. Das staatlich garantierte Mindesteinkommen RMG soll abgesenkt und durch ein flexibles Wohngeld ergänzt werden. Wer in seiner Freizeit andere Kinder oder fremde Menschen betreut oder pflegt, so Caritas-Direktor Erny Gillen im Vorwort, könnte mit Naturalleistungen entlohnt werden. Für andere, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen, könnten solche Leistungen „sogar verpflichtend werden“. Den Leitsatz „Sachleistung vor Geldleistung“ wollen die Autoren gerne auf andere Dinge ausdehnen, etwa den Kauf von Schulbüchern oder Kinderkleidung oder den Besuch von Ferienlagern über das Schecksystem abwickeln. Auch die „Entrümpelung des Steuerwesens“ steht auf der Wunschliste, die Sozialexperten verstehen darunter offenbar die Abschaffung der Steuerprogression.
Mal abgesehen davon, wie sich derlei Empfehlungen mit dem Selbstanspruch vertragen, die Interessen der Schwachen verteidigen zu wollen, stellt sich die Frage, was das für die Realpolitik heißt. Als die Regierung 2008 die Chèques services ankündigte, hatte die Caritas diese in ihrem Sozialalmanach längst vorweg genommen. Die Idee einer sozialen Wohnungsagentur für Bedürftige konnte man ebenfalls im Sozialalmanach nachlesen. Mit dem Ausbau der Maisons relais um 2 500 Plätze kommt die Regierung einer zentralen Forderung der Caritas nach, die heute schon einer der größten Anbieter von Betreuungsleistungen im Land ist – und weiter wachsen will: Ziel ist das „Problem der Konkurrenz durch die ‚éducation précoce’ aus der Welt“ zu schaffen, „die ‚crèches’ und ‚éducation précoce’ (zu) ersetzen“, so die Caritas, die verlangt, insbesondere das Betreuungsangebot für null- bis dreijährige Kleinstkinder auszubauen. Mindestens mit ihrer Forderung, die Qualität der Maisons relais einheitlich zu regeln, hat sie gute Aussichten auf Erfolg: Der ehemalige Koordinator der katholischen Maisons relais, Manuel Achten, ist seit Oktober ins Familienministerium gewechselt, wo er die Qualitätsentwicklung national koordinieren soll.
Mit Myriam Schanck hat die LSAP eine Person im christlich-sozial geführten Familienministerium untergebracht, was aber nichts daran ändert, dass die Sozialisten sozialstaatliche Visionen missen lassen. Vor wenigen Tagen erst hat die Parteiführung eine Arbeitsgruppe von Experten ins Leben gerufen, die in den kommenden Monaten alle Ausgaben und Einnahmen des Staates unter die Lupe nehmen will. Bis Ende Januar soll sie Vorschläge vorlegen, wo der Staat „sinnvolle Einsparungen“ vornehmen kann, „proaktiv und offensiv“, betont Lucien Lux, um sich nicht vom stärkeren Koalitionspartner die Bedingungen diktieren lassen zu müssen.
Für die Grundphilosophie braucht es kein Diktat. „Sachleistungen vor Geldleistungen scheint mir ein wichtiges Prinzip zu sein“, sagt Lux, und er steht damit nicht alleine. Die Liberalen begrüßen die „Ajustierung“ des Sozialstaats in Richtung mehr Selektivität, die Grünen sind nicht fundamental dagegen, wollen aber Zahlen. Für die LSAP sind Prämien im Wohnungsbau „diskutierbar“. Wenn weniger Geld zu verteilen ist, dann sollen zunächst die Bedürftigen profitieren. Das klingt, zumal in Krisenzeiten, einleuchtend. Nur bleiben zahlreiche offene Fragen: Was ist mit den Grundsätzen, für die der Sozialstaat früher einmal stand: den Reichtum gerecht zu verteilen und die Lohnschere nicht zu groß werden zu lassen? Wer den Druck auf Arbeitslose erhöht, Betriebssteuern senkt und von Steuererhöhungen für Reiche nichts wissen will, muss sich fragen lassen, wie er es mit der Gleichheit und Gerechtigkeit hält. Auf Sachleistungen umzustellen, bedeutet zudem, einem paternalistischen Sozialstaatsverständnis Vorschub zu leisten: Statt Familien wählen zu lassen, wie und wofür sie ihre Transferleistungen einsetzen wollen, schreibt der Staat es ihnen vor – pädagogische Betreuung vom Wickelalter an inklusive.
Wie aber passen Maisons relais und hochwertige Frühförderung zusammen, ursprünglich ein Auftrag der Éducation précoce, und was bedeutet das für den neutralen öffentlichen Bildungsauftrag? Was heißt das für eine Gesellschaft, wenn sie ihre Kinder immer früher an Betreuungsstrukturen abgibt, in denen in 170-Studen-Crashkursen ausgebildete Hilfserziehern arbeiten und deren pädagogische Qualität Eltern gar nicht beurteilen können, denn eine transparente, für alle verbindliche Qualitätssicherung gibt es nicht.
Und was, wenn am Ende nicht einmal das Hauptargument für den Umbau stimmt? In Deutschland hatten die Macher von Hartz IV und Ein-Euro-Jobs mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze und vor allem niedrigere Kosten für die Sozialkassen versprochen – drei Jahre nach der Einführung fiel das Urteil des Bundesrechnungshofes vernichtend aus: Die Minijobs führten in Wirklichkeit dazu, dass reguläre Arbeitsverhältnisse nicht auf-, sondern abgebaut werden. Die Qualität und das Fall-Management in der Hartz IV-Verwaltung überzeugten nicht, weil die Beratung zu sporadisch erfolge (bei Langzeitarbeitslosen im Schnitt 3,2 Mal) und nicht genügend auf den Einzelfall zugeschnitten sei, durch den bürokratischen Mehraufwand, sowie durch falsche Leistungszahlungen komme es zu „Mehrausgaben in erheblichem Umfang“.