Der G7-Gipfel ist im Schutz der bayerischen Polizei abgelaufen wie eine geölte Maschine. Unversehens hat er eine andere, genauso gut geölte Maschine ins Stocken gebracht. Weil wegen des Gipfels Land auf Land ab an europäischen Grenzen schärfer kontrolliert wurde, ist die Verteilung der hauptsächlich über Italien nach Europa strömenden Flüchtlinge ins Stocken geraten. Vor der Grenze zu Frankreich und auf dem Weg über die Alpen stauen sich die Flüchtlinge und dürfen nicht weiterreisen. In Deutschland und Frankreich werden Stimmen laut, die Schengen aushebeln wollen. Zu Nicolas Sarkozys Zeiten als französischer Präsident gab es schon einmal eine vergleichbare Situation.
Entscheidend für die Flüchtlinge ist, ob sie in Italien ihre Fingerabdrücke abgeben müssen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert einen Flüchtling aus Eritrea, den es zum zweiten Mal nach Norwegen zieht, mit den Worten: „Heute rate ich allen, wenn sie nach Sizilien kommen, lieber zu fliehen oder Gewalt anzuwenden, um der Registrierung hoffentlich doch zu entgehen.“ Die Staus auf den „Flüchtlingsautobahnen“ werden sich wieder auflösen, schließlich will das Publikum wilde Flüchtlingscamps an Grenzen oder Sammelstellen nicht sehen, das Problem aber wird bleiben. Italien wird so lange konsequent eher willkürlich Fingerabdrücke von Flüchtlingen abnehmen wie die anderen EU-Staaten die Mittelmeerländer mit den Flüchtlingen allein lassen. Nach dem derzeit gültigen Dublin-Abkommen müssen Flüchtlinge in dem Land bleiben, dessen Boden sie zuerst betreten haben.
Migration ist ein volatiles Geschäft. Bis 2013 führt die Statistik Syrer und Eritreer nur unter ferner liefen, heute stellen sie die Hauptkontingente. Eine erbarmungslose Diktatur und eine selbstmörderischer Krieg lassen vielen Menschen keine Wahl mehr. Grundsätzlich braucht Europa Zuwanderer. Projektionen von Eurostat sehen ohne Zuwanderung einen Rückgang der EU-Bevölkerung bis 2060 von 500 auf 430 Millionen Menschen, mit Zuwanderung soll sie auf fast 520 Millionen Menschen anwachsen. Das hört sich nach gar nicht so viel an, bedeutet aber die Integration von fast 100 Millionen Menschen oder 20 Prozent der aktuellen Bevölkerung innerhalb von 45 Jahren. Die Migration nach Europa wird eines der gravierendsten Themen für mindestens eine Generation bleiben. Wie Europa mit den Flüchtlingen umgehen wird, wird mit darüber entscheiden, in welcher Freiheit die Bürger der Europäischen Union leben werden.
Der Druck ist hoch und alle wissen es. Mit Flüchtlingen kann man Wahlen verlieren und das will niemand. Die Hoheit über die eigene Grenze rückt wieder in den Fokus. In Großbritannien mag davon das Bleiben oder Ausscheiden aus der EU abhängen. Ungarn will einen vier Meter hohen Zaun an der Grenze zu Serbien bauen. Sollte sich in Deutschland und Frankreich eine breite Diskussion darüber entfalten, ob man der Verteilung der Flüchtlinge nur mit stärkeren Grenzkontrollen Herr werden zu könne, gerät schon der Grundkonsens des Schengenraums in Gefahr. Die Lösung der europäischen Flüchtlingsfrage entscheidet mit über die Bewegungsfreiheit von 500 Millionen Europäern. Der deutsche Innenminister Thomas De Maizière warnte davor, dass das Ende des freien Verkehrs in Europa bevorstehe, wenn nicht alle EU-Länder ihrer Verantwortung nachkämen.
Italien will jetzt eine Lösung. Die EU-Kommission hat einen Plan erarbeitet, der die Verteilung von 40 000 Flüchtlingen anhand eines Kriterienkatalogs vorsieht. Vor allem die osteuropäischen Länder, allen voran Ungarn und Tschechien, wehren sich gegen feste Quoten. Sie wollen jeden Präzedenzfall vermeiden. Zu einer Verteilung wird es auf freiwilliger Basis dennoch kommen. Italien, Griechenland, Malta, Portugal und Spanien können das Problem objektiv nicht ohne die Hilfe der anderen Länder lösen. Großbritannien, Irland und Dänemark wollen auf keinen Fall mitmachen. Für diese drei Staaten gibt es Sonderregeln bei der Innen- und Rechtspolitik. Auf dem EU-Gipfel Ende des Monats müssen konkrete Beschlüsse her, eine qualifizierte Mehrheit würde ausreichen, aber es ist schwer vorstellbar, dass die EU einen Mitgliedstaat gegen seinen Willen zur Aufnahme von Flüchtlingen zwingen kann.
40 000 umverteilte Flüchtlinge sind ein Tropfen auf den heißen Stein und nicht einmal eine Symptombehandlung. Alle administrativen und repressiven Maßnahmen werden die sogenannte illegale Zuwanderung nicht verhindern, eine legale gibt es so gut wie nicht. Diese gilt es zu verbessern und zwar schnell. Nur dann ist es auch vorstellbar, dass jeder Flüchtling, der in die EU einreist, seine Fingerabdrücke abgibt. Sicherheitsmaßnahmen brauchen einen demokratischen Grundkonsens. Ist Illegalität der einzige Ausweg fürs Überleben, wird es diesen Grundkonsens zum Schaden nicht geben können.
Dass es auf dem Junigipfel der EU zu einer Einigung zur Verteilung der Flüchtlinge kommt, ist wahrscheinlich. Ob dies „freiwillig“ oder unter dem Druck der Ereignisse erfolgt, ist nebensächlich. Die EU-Mitgliedstaaten haben richtig erkannt, dass die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen nicht das Ende, sondern der Beginn einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik sind. Was noch fehlt ist die Erkenntnis, dass es zuerst einer Strategie bedarf, bevor man erfolgreich große Probleme lösen kann. Der Weg zu dieser Erkenntnis ist für die meisten Politiker aber offensichtlich noch weiter als der Weg von Eritrea, Sudan oder Syrien nach Europa. Je früher sie sich auf diesen Weg machen, desto besser für die Flüchtlinge und die EU.