Vergangenes Jahr stand der Nationalfeiertag im Zeichen der liberalen Regierungskoalition. Sie wollte ein halbes Jahr nach ihrem Antritt mit der versprochenen Trennung von Kirche und Staat Ernst machen und ließ im Neuen Theater eine laizistische Konkurrenzveranstaltung zum traditionellen Te Deum organisieren. Sie wollte die Bande zwischen Thron und Altar lösen und ein Zeichen setzen, dass ihre Nation nicht die klerikale und konservative, sondern eine aufgeklärte und säkulare ist. Dieses Jahr ist das schon Routine: Am kommenden Dienstag findet vormittags ein Staatsakt in der Philharmonie statt, nachmittags preist der Erzbischof seinen Herrn in der Kathedrale und dazwischen paradiert die Truppe vor dem ehemaligen Arbed-Sitz, nunmehr Staatssparkasse. Statt der Trennung von Kirche und Staat rückt heute wieder die Nation in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Selbstverständlich wurde der Nation immer viel Aufmerksamkeit geschenkt. Wie könnte es auch in einem etwa badetuchgroßen, erst im 19. Jahrhundert willkürlich gegründeten Nationalstaat anders sein? Doch das Referendum vom 7. Juni über das Ausländerwahlrecht entfachte die alten Diskussionen über die Nation, die nationale Identität, ihre Bedrohung und ihre Verteidigung, über Vaterland und Muttersprache neu. Dabei gehen die Meinungen noch immer und sogar wieder heftiger auseinander, ob die Nation nun eine reale Blutgemeinschaft, ein imaginäres Konstrukt oder irgendetwas dazwischen ist.
Erstaunlicherweise gibt darauf nicht einmal die Verfassung eine Antwort. Sie stellt zwar in Artikel 32 feierlich fest, dass „die Staatsmacht in der Nation beruht“, aber sie definiert nirgends, was oder wer dieser Hort aller Gewalten im Staat ist. Doch mehr noch als die rivalisierenden Feiern am Kinneksgebuertsdag könnten das Referendum, seine Informationsversammlungen, Fernsehdebatten und Anzeigenkampagnen eine Antwort liefern. Nämlich dass es die Nation vielleicht gar nicht gibt und nicht einmal richtige oder falsche Definitionen von Nation, sondern dass es mehrere Nationen gibt.
Entkleidet man die konservativen und reaktionären Varianten von Nation ihrer quasi-religiösen, die liberalen ihrer rationalen und die linken ihrer kosmopolitischen Symbolik, all der Fähnchen, Posaunen, Resistenzdenkmäler und Folklorefeste, werden am Ende Strategien gesellschaftlicher Klassen und Schichten sichtbar, um Herrschaft auszuüben und wirtschaftliche Vorteile herauszuschlagen: Die einen wollen als Privileg ihrer Nation weniger Steuern zahlen und mehr Sozialleistungen kassieren als der Nachbar oder Arbeitskollege. Andere wollen im Namen ihrer Nation sich oder ihren Kindern einen Arbeitsplatz gegen Konkurrenten sichern und die Begleichung der Staatsschuld auf andere abwälzen. Wiederum andere berufen sich auf ihre Nation, um billigere Produktionsbedingungen und günstigere Absatzmärkte als der Konkurrent zu erzielen. Noch andere verteidigen im Namen ihrer Nation das Vorrecht, zu regieren und zu verwalten.
Dass alle in ihrer nationalistischen Rhetorik einen Alleinvertretungsanspruch für ihre Variante von Nation erheben, ergibt sich nicht bloß aus dem monotheistischen Verständnis von Nation, sondern auch aus dem Verfassungsartikel 32, dessen Schwammigkeit, wie am 7. Juni, zum Verteilungskampf um die Staatsmacht einlädt. Selbstverständlich drücken die verschiedenen Vorstellungen von Nation auch überlappende Interessen aus. Doch nur in Extremsituationen, wie beispielsweise im Laufe des Zweiten Weltkriegs, können sie vorübergehend fast, aber nie ganz deckungsgleich werden. Wie vorige Woche die peinliche Entschuldigung des Parlaments für den Verrat zeigte, den der Staatsapparat im Namen seiner Nation an den Juden beging.