Verkehrspolitik ist nicht gerade das Lieblingsthema der Europäischen Kommission. Nachdem sie Mitte der Achtzigerjahre vom Europäischen Parlament per Klage vor dem Europäischen Gerichtshof quasi dazu gezwungen wurde, sich mit diesem Aufgabenfeld, das ihr laut den EU-Verträgen zufällt, zu beschäftigen, entwickelte die Kommission erst seit den 90-ern ernsthafte Vorschläge zu einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik. Das Weißbuch zur Verkehrspolitik, dass die Brüsseler Beamten Ende vergangenen Jahres nach langen Verhandlungen innnerhalb der Kommission vorgelegt haben, soll nun beweisen, dass realistische Antworten auf die Verkehrsprobleme innerhalb der EU greifbar sind. Bis 2010 will die EU-Kommission ihre Vorschläge zu einer Verkehrswende umsetzen.
Die Herausforderungen sind groß: Täglich kommt es mindestens auf zehn Prozent der europäischen Straßen, die Staukosten werden bis 2010 um 142 Prozent auf 80 Milliarden Euro pro Jahr ansteigen. Das entspricht einem Anteil von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU. Zudem wird der Schwerlastverkehr bis 2010 um 50 Prozent gegenüber 1998 ansteigen. Diese Verkehrslawine könnte die Wirtschaft empfindlich treffen: Auf lange Sicht könnte die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Union durch die negativen Folgen des Verkehrs gefährdet werden, so argumentiert mittlerweile auch Brüssel.
Die EU-Kommission hat sich angesichts dieser Herausforderungen nicht eben ehrgeizige Ziele gesetzt: Die Verlagerung des Verkehrs auf die Straße soll gestoppt, und bis zum Jahr 2010 sollen die Marktanteile der einzelnen Verkehrsträger auf das Niveau von 1998 zurückgebracht werden. Die Kommission setzt mit ihrem Maßnahmenkatalog auf eine stärkere Liberalisierung der Bahn, die transeuropäischen Netze sollen finanziell etwas aufgestockt und ausgebaut werden, und vorsichtig soll auch die Besteuerung der Kraftstoffe europaweit angeglichen werden. Es bleibt aber fraglich, ob diese Vorschläge den Verkehrsinfarkt abwenden können: Die Marktöffnung bei der Schiene wird nicht die ernsthafen Kapazitätsprobleme der Bahn angehen; auch die leichte Erhöhung der europäischen Fonds für transeuropäische Netze wird nicht genügend Geld zusammen bringen, um die bestehenden Engpässe zu beseitigen.
Realistischer ist da schon der Kommissionsvorschlag, die Verkehrswende durch die europaweite Einführung von Autobahngebühren anzugehen. Die Idee, den Nutzern die Kosten für Bau, Unterhalt und Umweltauswirkungen der Verkehrswege anzulasten, ist nicht neu. Die Kommission hatte schon 1998 erste zaghafte Versuche in diese Richtung unternommen, ließ sich jedoch recht schnell von den Lkw-Lobbies zurückpfeifen. Jetzt relanciert sie diesen Vorschlag - vor allem, weil neben Deutschland nun auch Österreich, Belgien und die Niederlande über die Einführung so genannter "Mautgebühren" nachdenken. In Frankreich, Italien, Griechenland und Portugal werden heute schon solche Gebühren erhoben. Die Tarife und Systeme sind in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten allerdings so unterschiedlich, dass die Kommission mittelfristig ein komplettes Chaos befürchtet.
Die EU-Kommission steuert nun, wie hinter den Kulissen zu hören ist, europaweit eine Harmonisierung der Gebühren und ein einheitliches technisches System zur deren Erhebung an. Die Brüsseler Beamten haben sich auch erstmals getraut, eine leichte Orientierung über die eventuelle Höhe einer solchen EU-Steuer zu geben. Die Kommission plant, die Gebühren relativ streng an den tatsächlich verursachten Infrastruktur- und Umweltkosten auszurichten. Dabei liegen laut Kommissionsberichten für einen Lkw die Kosten pro 100 Kilometer bei zwei bis 15 Euro für die Luftverschmutzung, acht bis zehn Euro für die klimaschutzrelevanten Emissionen, bei zwei bis drei Euro für die Abnutzung der Infrastruktur, ein bis vier Euro für den Lärm, ein bis zehn Euro für Unfallkosten und bei drei bis zehn Euro für die Staus. Insgesamt müsste demnach ein Lkw-Fuhrbetrieb für 100 Kilometer Fahrt eine Gebühr von 15 bis 45 Euro bezahlen.
Sollte dieser politisch äußerst sensible Vorschlag der Kommission bei den EU-Mitgliedstaaten durchgehen, werden die Lkw-Unternehmen in Zukunft kräftig zur Kasse gebeten. Verkehrsexperten sehen angesichts dieser neuen Marschrichtung der Kommission bereits das Ende der just in time-Produktion nahen. Kein Wunder, dass die Transportfirmen Sturm gegen die geplante Regelung laufen: Nach den Aussagen ihrer Lobby würde die "Maut" das Ende der Transportbetriebe bedeuten und der bereits durch erste Rauchschwaden einer Rezes-sion gebeutelten europäischen Wirtschaft einen weiteren schweren Stoß versetzen.
Die Kommission hat angesichts der Dramatik der Überlastung der Straßen und der Tatsache, dass der Straßentransport auch weiterhin der Klimakiller Nummer Eins bleibt, die einzig richtige Antwort auf diese Kritiken gegeben: Eine Infrastrukturgebühr sei nicht kontraproduktiv für die Wirtschaft in Europa, sondern wirke strukturell auf längst nötige Reformen hin. Eine Politik des Status quo sei dagegen von erheblicher negativer Auswirkung auf die Wirtschaft, da sie den Handel beschränke und immer höhere Kosten verursache, die letztlich keiner mehr bezahle. Der Zoff ist vorprogrammiert. Wenn die Kommis-sion ernst damit macht, noch in diesem Jahr eine Direktive vorzulegen, die die Prinzipien von europaweiten Verkehrsinfrastrukturgebühren festlegt, sind neue Straßenblockaden der Brummifahrer absehbar. Wenngleich der Druck der Straße sozialrechtlich auch einiges Positives ins Rollen gebracht hat, so könnte diese Geiselnahme verkehrs- und umweltpolitisch äußerst negative Folgen haben.
Der frühere Land-Redakteur Olaf Münichsdorfer ist heute Mitarbeiter der grünen Fraktion im Europaparlament.