„Eine Wahl oder eine Nicht-Wahl“ nannte Direktor Carlo Thelen am Mittwoch die Ernennung der neuen Vollversammlung der Handelskammer. Man hatte sich in einem großen, fensterlosen Holzkasten im Untergeschoss der Kirchberger Handelskammer zusammengefunden, die 25 neuen Mitglieder und die Ersatzmitglieder, einige Funktionäre und Journalisten, um der doch etwas überraschenden Amtsübergabe an der Spitze der Unternehmerlobby beizuwohnen.
Der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Etienne Schneider, der gerade wundersamerweise den 14. Oktober überstanden hatte, stichelte: „Zwanzig Jahre ohne Wahlen, wäre das bloß auch in unserem Club der Fall!“ Doch im Gegensatz zum „Club“ der Politiker, wo vor hundert Jahren allgemeine und geheime einstufige Wahlen eingeführt worden waren, geht es bei der Handelskammer, trotz ständiger Beschwörung von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, noch manchmal zu wie unter den Notabeln des 19. Jahrhunderts.
Schließlich ist die Handelskammer älter als die meisten anderen Institutionen des Großherzogtums. Sie war 1841 gegründet worden, um beim Eintritt in den deutschen Zollverein die Interessen von Handel und Industrie gegen den wenig interessierten holländischen König-Großherzog und die einflussreiche Landwirtschaft zu vertreten. Bis heute hält man Diskretion und Abmachungen im engsten Kreis für den Geschäften dienlicher als öffentliche Debatten, hängt man zumindest für sich selbst dem Prinzip der Einheitsgewerkschaft an.
Deshalb war man wenig erbaut, als die Union luxembourgeoise de l’économie sociale et solidaire mit einer eigenen Kandidatenliste in die Wahlen zur Handelskammer ziehen wollte. Zum Glück scheiterte die Liste an den altehrwürdigen Prozeduren und damit erübrigten sich auch wieder Wahlen. So konnte die gerade in der Salariatskammer passierte Peinlichkeit vermieden werden, dass man jemand zum Präsidenten machen wollte, der bei den Wahlen schlecht abschnitt.
Trotzdem haftete der Amtsübergabe diese Woche etwas Historisches an: Bis zum Aufkommen der Stahlindustrie wurde die Handelskammer vor allem von Kaufleuten und Druckereibesitzern geleitet. Nach dem Bau der ersten Hochöfen waren es ab 1884 dann Schmelzherren und seit der Gründung der Arbed ein Jahrhundert lang Arbed-Präsidenten. Erstmals seit François Krewinckel und Ferdinand Schaefer, den Mitbegründern der Banque internationale vor anderthalb Jahrhunderten, wurde nun wieder ein Bankenvertreter zum Präsidenten der Handelskammer gewählt, der Verwaltungsratsvorsitzende der Banque internationale, Luc Frieden.
Mit dem Wechsel von Michel Wurth, dem Präsidenten von Arcelormittal Luxemburg, zu Luc Frieden habe die Vollversammlung beschlossen, der Wirklichkeit der Luxemburger Wirtschaft Rechnung zu tragen, meinte Wurth, der erklärte, er habe mit seinem Verzicht auf eine erneute Kandidatur einer neuen Generation die Möglichkeiten bieten wollen, die Zukunft der heimischen Wirtschaft zu gestalten. Die Wahl ratifiziert symbolisch den Machtwechsel vom ein Jahrhundert lang herrschenden Industriekapital zum Finanzkapital. Der Machtwechsel war schon bei der feindlichen Übernahme von Arcelor durch Lakshmi Mittal unübersehbar geworden, als die Handelskammer auf Betreiben Michel Wurths einen Gesetzesvorschlag machte, um mit einer Sperrminorität die Übernahme zu verhindern. Vor die Wahl gestellt zwischen einer nationalen Stahlindustrie und einer globalisierten Finanzbranche, hatte die Regierung den Vorschlag abgeblockt.
Als 2013 die liberale Koalition an die Macht kam, mit ihren Geschäftsanwälten, Unternehmensberatern und Bankiers in den Kulissen, befürchtete das Industriekapital, bald zur „officiellen Opposition“ zu gehören wie nach der Machtergreifung des Finanzkapitals in der französischen Julirevolution. Nun, da die Industrie nicht einmal mehr den Handelskammerpräsidenten stellt, droht sie weiter an Einfluss zu verlieren.
Deshalb versprach Luc Frieden, als er wie ein Showmaster lächelnd mit dem schnurlosen Mikrofon über die Bühne stolzierte, und ständig „emprise“ sagte, wenn er „entreprise“ meinte, er wolle „der Präsident aller Gruppen und Sektoren sein“. Aber unter seinen Zuhörern saßen manche, die ihm abschätzig vorwerfen, nicht einmal ein Unternehmer zu sein, sondern ein Politiker, der als Geschäftsanwalt in einer Rechtsfirma arbeitet, wenn er gerade kein Mandat hat. Also rechtfertigte er sich am Mittwoch, dass er bloß „zwei Jahre in [s]einem Leben einen Arbeitsvertrag besessen“ habe. Das war wohl, als der Ex-Minister bei der Deutschen Bank in London angestellt war, weil er sich zu schade war, um den Oppositionsabgeordneten zu spielen.
Wenn Politiker in die Wirtschaft wechseln, stellt sich immer die Frage, ob es für geleistete Dienste ist oder um Dienste zu leisten. Etienne Schneider spöttelte am Mittwoch über den ehemaligen Direktor der Handelskammer, Pierre Gramegna (DP), der nun als Finanzminister „seine Meinung komischerweise vollständig geändert“ habe, und es werde „Luc nun auch so ergehen“. Dieses Söldnertum nannte er „auch ein Stück Luxemburg, sich immer neu zu erfinden“, und dachte vielleicht auch an seine eigene Zukunft.
Luc Frieden, der zuerst zur DP gehen wollte, eher er seine Laufbahn der CSV anvertraute, wehrte sich aber gegen Schneiders Unterstellung, denn seinen beruflichen Werdegang zeichne „eine sehr schöne Stetigkeit“ aus. Aus der Sicht der Handelskammer war das nicht so falsch. Er hatte den Vertretern von Banken, Versicherungen und Investitionsfonds das Haut comité de la place financière geschenkt, wo diese die sie betreffenden Gesetzentwürfe weitgehend selbst schreiben durften. Er hatte, wie von der Handelskammer verlangt, eine Defizitbremse für die Staatsfinanzen in die Verfassung schreiben wollen, doch sein Premier hatte es verhinderte.
Als 2012 der liberale Durchmarsch der CSV/LSAP-Koalition noch immer auf sich warten ließ und die Unternehmer die Geduld verloren, versprach Luc Frieden bei der Journée de l’ingénieur kaum verhohlen einen Putsch gegen den Herzjesu-Marxisten Jean-Claude Juncker, um einer CSV/DP-Koalition den Weg zu ebenen, die endlich mit dem Index, dem Mindestlohn und der Tripartite aufräumen würde. Aber er konnte nicht liefern, die Sponsoren verloren das Interesse und investierten lieber in eine Koalition ohne die CSV.
Luc Friedens politische Laufbahn war weniger stetig als seine Sympathie für die Anliegen der Handelskammer. Im dynastischen System der CSV war er als Nachfolger Jean-Claude Junckers vorgesehen, und als ewiger Kronprinz des CSV-Staats wartete er nach jeder Wahl darauf, dass Juncker endlich nach Brüssel ginge. Nach den Wahlen 2004 hatte Juncker seinen Thronfolger noch zum „Superminister“ für Haushalt, Schatzamt, Justiz, Polizei und Verteidigung gemacht, aber zwei Jahre später nahm er ihm die Verteidigung wieder ab.
Bald sprach der erfahrene Sozialdemagoge Jean-Claude Juncker seinem Thronfolger das politische Gespür ab, das nötig ist, um eine Volkspartei und eine Regierung zu führen. Wenn Asylsuchende ausgewiesen wurden oder ein Gefangener bei einer Gefängnisrevolte starb, erwies Luc Frieden sich bloß als autoritärer Technokrat, sogar das Luxemburger Wort bescheinigte ihm Kaltherzigkeit. Als die autoritären Technokraten nach der Finanzkrise in Europa die Konjunktur mit Austeritätspolitik abwürgten, schrieben die Fraktionssprecher von CSV und LSAP seinen Haushalsentwurf um, weil darin nicht genug gespart wurde.
Ihren Tiefpunkt erreichte die politische Laufbahn des christlich-sozialen Hoffnungsträgers in der Regierungskrise 2013, als ihm vorgeworfen wurde, unter undurchsichtigen Umständen den Verkauf eines Drittels der Cargolux-Aktien an Qatar Airways organisiert zu haben, die Ermittler in den Bommeleeërten-Affäre gezielt entmutigt und einen Gesetzentwurf gegen die Justizbehinderung begraben zu haben. Im Frühjahr 2013 retteten die LSAP und der Generalstaatsanwalt ihn im letzten Augenblick vor einem Misstrauensvotum.
Doch stets wenn Luc Friedens politische Laufbahn ins Stocken geriet, kamen ihm einflussreiche Freunde, meist aus katholischen bis katarischen Unternehmerkreisen, zu Hilfe. Als die CSV sich 2013 in der Opposition wiederfand und er sein Ministeramt verlor, durfte er den Vorsitz der Banque internationale und des Sankt-Paulus-Verlags übernehmen. Die Bil hatte er wenige Jahre zuvor als Finanzminister mit Staatsgeldern gerettet und dann beim günstigen Verkauf an den Katar unterstützt, im Sankt-Paulus-Verlag brachte er das Luxemburger Wort wieder auf einen CSV- und unternehmerfreundlicheren Kurs. Als Claude Wiseler Spitzenkandidat wurde, bekam Luc Frieden zum Trost den Posten des Luxemburger EU-Kommissars in Brüssel versprochen. Aber die CSV landete erneut in der Opposition, der Kommissarsposten ging an die LSAP. Also durfte Luc Frieden nun den Vorsitz der Handelskammer übernehmen, vielleicht in der Hoffnung auf bessere Zeiten.