Luxemburgensia

Augenblicke der Zeitlosigkeit

d'Lëtzebuerger Land vom 20.10.2005

Für Insider der Luxemburger Literaturszene ist Marielys Flammang kein unbekannter Name. Einige ihrer Geschichten wurden vereinzelt in Les cahiers luxembourgeois und in Nos cahiers veröffentlicht. Die ehemalige Lehrerin schreibt seit 1991, nun gibt sie ihren ersten Band mit zwanzig kurzen Erzählungen im Verlag R.G.Fischer heraus. Selten entspricht ein Buchtitel so genau dem Inhalt, hier ist der Zwischenraum "Ort des Geschehens": Zwischenwelten, die eine Kette von Gegensatzpaaren beschwören, Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Phantasie, reales Leben und Traum. Wir können die (scheinbare, wie es sich herausstellen wird) Polarität weiterspinnen: eine Welt zwischen Licht und Schatten, zwischen Bedrohung und Geborgenheit, zwischen Schrecken und Erfüllung, zwischen Verzeiflung und Hoffnung, zwischen fertiger Antwort und Ratlosigkeit, zwischen Verlust und Gewinn. Hier krasse Realität, dort überhöhende Poesie, hier klinischer Konflikt, dort mythisierende Umrahmung, immer aber Offenheit, nie Fixierbarkeit auf einen bestimmten Punkt. Mit diesen Elementen spielt auch der Illustrator Raymond Weiland: Türen, Öffnungen, Sperrungen, Schattenfiguren - Tuschezeichnungen, aber wie Holzschnitte, gleichzeitig präzis und doch "verwischt". Damit wären wir aber bereits beim zweiten Begriff des Titels. Auch wenn im Untertitel die Gattung "Erzählung" genannt wird, bezeichnet die Autorin ihre Geschichten als "Bilder". Betont wird demnach nicht das Dynamische, der Fluss einer Geschichte, betont wird die Bildhaftigkeit, das Mythisch-Märchenhafte, das Symbolische oder Metaphorische, ja, das Archetypische. Und trotzdem handelt es sich um richtige Geschichten, die nicht bloß erzählt sind, sondern erzählt werden müssten. Sie haben ihren Ton, und der Ton spiegelt ihre Welt. Und die liegt in den Zwischenräumen. Selbstverständlich, so kann man einwenden, ist dies bloß eine rein gattungs- und stimmungsmäßige Charakterisierung des Buches. Auch wenn es von seiner "Gestimmtheit" lebt, wird es doch wohl "etwas" zu erzählen haben! "Aus Bildern werden Geschichten", verrät der Klappentext. Das ist wörtlich zu nehmen. So unternimmt beispielsweise in Reise ein beschäftigter Vater eine fünftägige Radwanderung mit seinem Ältesten. Aus dieser banalen Situation entwickelt sich ein ganzes Beziehungsgeflecht, und aus der Radtour wird eine Initiationsreise ins Leben, die mythische Züge trägt. Die wesentliche, dem fernöstlichen Denken geläufige "Erfahrung" erfolgt ganz nebenbei, in der Begegnung mit einer so genannten Nebenfigur: "Sie hatte sowohl etwas Junges als etwas Uraltes in ihrem Wesen. War sie schön oder gar hässlich, kräftig oder eher zart? Der Junge wusste es nicht. All diese Fragen verloren ihren Sinn, wenn man sie in Bezug auf diese Frau stellte, denn sie war immer beide Gegensätze." Damit aber klingt ein anderes Grundthema an: das Motiv des Verlustes. Oder müsste man sagen: des Abschieds ? Einigen wir uns auf den Begriff "Loslösung". Loslassen, weil es weise ist, loslassen, weil es (bekanntlich?) der Liebe entspricht, loslassen aber auch, weil es sonst zu sehr schmerzt. Manche Erzählungen beschreiben solche "Wege" mit einem Moment des Weltverlusts und einer Art gleichzeitiger "Erleuchtung": da fällt wortwörtlich der Augenblick aus der Zeit heraus. Das nimmt dem Ganzen aber nicht den Stachel einer ernüchterten und schmerzhaften Welt- und Lebenspräsenz. Deshalb wundern mich kritische Stimmen, die eine solche Literatur als "naiv" bezeichnen. Das Naive oder scheinbar Altmodische wird postmodern verfremdet, die Dissonanzen aber werden geglättet durch die einfache Diktion und die kompromisslose Selbstverständlichkeit, mit der diese Geschichten ihren Weg gehen.

Marielys Flammang: Bilder aus den Zwischenräumen; Erzählungen; illustriert von Raymond Weiland; R.G. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; September 2005; 131 Seiten; 10 Euro; ISBN: 3830108281

Paul Maas
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