Der Lastwagen legt den Rückwärtsgang ein, das akustische Warnsignal zerrt am Trommelfell. Langsam fährt er rückwärts bis zum Tor Nummer zwei, kontrolliert, ob er nah genug herangefahren ist, dann hebt sich die Ladefläche und eine geballte Ladung Müll fällt mehrere Meter in die Tiefe. Der neue Müllbunker der Verbrennungsanlage des Gemeindesyndikats Sidor in Leudelingen fasst 4 000 Tonnen Müll. Wer einen Mordsgestank erwartet, hat sich geirrt. Sogar oben, direkt an den Toren stinkt es nicht. Es riecht. Das liegt, wie Patrick Christophory von Sidor erklärt, daran, dass die Luft aus der Grube abgesaugt wird, also kaum nach außen dringt.
Sobald der Lastwagen fertig abgekippt hat, saust, an Stahlseilen hängend, ein riesiger Greifkopf herbei. Er krallt sich den frischen Müll, lässt ihn an anderer Stelle wieder fallen, greift sich eine neue Ladung, saust zurück. Tüten platzen und zerreißen, die Einzelteile werden sichtbar. Viel Papier wird erkennbar und Plastik. Wie von Zauberhand geführt, knetet und mischt der Kran die Müllmasse. Weit oben unter der Bunkerdecke, hinter einer Glasscheibe sitzen die Kranführer, die Finger an den im Sitz eingebauten Joysticks, die Augen nach unten oder auf den Bildschirm gerichtet, auf dem sie im Zoom genauer betrachten können, was angeliefert wird. Schon an der Farbe können sie erkennen, ob es sich um frischen (hell) oder alten Müll (dunkel) handelt, so Christophory. Auf die Mischung kommt es an. Die Masse, mit der die Kranführer den Brennofen befüllen, soll möglichst homogen sein, um stabile Brennwerte zu erreichen.
125 000 Tonnen werden jährlich in Leudelingen verbrannt, über zwei Drittel, 70 Prozent, des in Luxemburg anfallenden Restmülls. Insgesamt 36 Gemeinden zählen zum Abfallsyndikat Sidor, darunter sowohl die Gemeinde Luxemburg wie auch die Stadt Esch. Sidec, das Abfallsyndikat der Nordgemeinden, dem 55 Gemeinden angehören, verarbeitet nur 39 000 Tonnen Restmüll, Sigre, der Verbund der Ostgemeinden, lediglich 29 000 Tonnen Restabfälle.
Stündlich 20 Tonnen schafft der einzige Ofen der neuen Einrichtung, die am Montag feierlich eingeweiht wurde. Die drei Öfen der alten Anlage, die den Betrieb 1976 aufnahm, konnten jeweils acht Tonnen Müll pro Stunde verbrennen. Theoretisch wurde die Kapazität demnach reduziert. In der Praxis ist das anders. Denn die alten Öfen schafften am Ende nur noch sechs Tonnen in der Stunde – eine Folge des rückläufigen Anteils an Bioabfällen im Haushaltsmüll. Bei der Verbrennung des „trockeneren“ Mülls entstehen höhere Temperaturen, zu hoch für die Vorgängerstruktur, die deshalb nicht voll ausgelastet werden konnte. Auf dem Papier beträgt die Kapazität der neuen Anlage 150 000 Tonnen jährlich. „Sie kann aber sicherlich mehr“, sagen Pauline Van Wissen und Patrick Christophory. Das wissen sie, weil der Betreiber Eon Energy from waste (EEW) eine gleichwertige Verbrennungsanlage in der Nähe von Freiburg führt und dort höhere Tonnagen verwertet werden.
Für die Sidor-Gemeinden reicht die Kapazität überdies völlig aus. Denn obwohl die Bevölkerung und Arbeitnehmerzahlen ansteigen, bleibt die Müllproduktion seit einigen Jahren stabil, sagt Van Wissen. Von 2009 auf 2010 habe es sogar einen leichten Rückgang von etwa einem Prozent gegeben. Auch auf Landesebene gibt es eine ähnliche Entwicklung. Zwischen 1995 und 2008 sei das Volumen der bei Sidor, Sidec und Sigre verarbeiteten Restabfälle stabil geblieben, geht aus den Daten der Umweltverwaltung hervor, obwohl im gleichen Zeitraum die Einwohnerzahl um 19 Prozent gestiegen sei und die der Grenzpendler um 106 Prozent.
Dabei gibt es durchaus Einsparpotenzial, was den in Leudelingen angelieferten Müll betrifft. Als 2009 die Zusammensetzung der Restabfälle analysiert wurde, stellte sich heraus, dass sie noch 33 Prozent Biomüll enthalten. Van Wissen und Christophory verweisen an die Stadt Luxemburg, die etwa ein Drittel des bei Sidor verbrannten Mülls anliefert. Dort wird Privathaushalten erst seit vergangenen Herbst eine Biomülltonne angeboten, auf freiwilliger Basis. „Das Potenzial ist enorm“, bestätigt Umweltschöffin Viviane Loschetter (Déi Gréng), „und die Resonanz gut.“ Von 48 000 möglichen Haushalten hätten sich bereits 16 000 für eine Biomülltonne entschieden. In den letzten drei Monaten 2010 seien fast 60 Tonnen Biomüll eingesammelt worden. Ein Gratisangebot, weswegen die Stadt doppelt zahlt. Einmal, um den Müll einzusammeln, und noch einmal, um ihn an die Biogasproduzenten in Kehlen und Itzig loszuwerden, mit denen die Verwaltung Verträge abgeschlossen hat. Bis zu 15 Tonnen wöchentlich könnten demnach eingespart werden. Für den neuen Sidor-Ofen mache es keinen Unterschied, ob sich die Zusammensetzung derart verändere, sagt Christophory.
Mit den Gemeinde-Syndikaten Sigre und Sidec hat die Sidor Kooperationsverträge. So geben die Sidor-Gemeinden beispielsweise den Kehricht an die Deponien ab, weil Dreck und Staub nicht gut brennen. Die Schwestersyndikate ihrerseits liefern der Sidor solchen Müll, der sich schlecht in die Deponien einbauen lässt. Oder einen hohen Kaloriengehalt hat. So trennte beispielsweise das Nordsyndikat Sidec 2009 rund 10 440 Tonnen heizwertreichen, groben Abfall zur Verbrennung an die Sidor heraus, zwischen 20 und 25 Prozent der Restabfälle aus dem Norden insgesamt. Ein generelles Abkommen, das darauf hinausliefe, alle Restabfälle Luxemburgs in Leudelingen zu verbrennen, gibt es nicht. Das kann man bedauern. Denn gilt die Energiegewinnung aus der Abfallverbrennung auch nicht als erneuerbare Energiequelle, so wäre es unbestreitbar logischer, den Müll, der sich verbrennen lässt, tatsächlich zur Energiegewinnung zu verwerten, anstatt ihn auf Deponien zu verscharren. Umweltminister Marco Schank (CSV), der am Montag ankündigte, Anfang April einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Abfallrichtlinie von 2008 vorzulegen, spricht deswegen lieber von Wertstoffen als von Abfall.
„Die Syndikatesind historisch gewachsen“, erklären Van Wissen und Christophory bemüht neutral. Sie hätten jeweils ihre Kapazitäten aufgebaut und Investitionen getätigt. Als sich Sidor entschloss, die Infrastruktur zu erneuern, habe trotz jahrelanger Gespräche keine politische Entscheidung für eine engere Zusammenarbeit vorgelegen. Aktuell würden wieder Stu-dien und Verhandlungen in diesem Sinne laufen, bestätigt auch Camille Gira, Präsident des Nord-Syndikats Sidec. Das habe besonderes Interesse an einer „nationalen Lösung“. „Beim Sidec gibt es eine Restkapazität von zwölf bis fünfzehn Jahren. Danach dürfte es sowohl technisch, als auch politisch sehr schwierig werden, noch einmal eine so große Deponie einzurichten“, sagt Gira. „Obwohl eine Deponie heute, wo wir eine mechanisch-biologische Vorbehandlung haben, mit einer Deponie von früher nichts mehr zu tun hat und es immer Abfälle geben wird, die sich schlecht verbrennen lassen“, fügt er hinzu. In diese Vorbehandlungsanlage, die 2007 in Betrieb genommen wurde, hat das Sidec viel investiert: 35 Millionen Euro, die amortisiert werden wollen.
Die neue Verbrennungszentrale in Leudelingen, deren Planung, Bau und Betrieb 2005 ausgeschrieben wurde, stellt ihrerseits eine Investition von fast 100 Millionen Euro dar, von denen die Syndikatsmitglieder 75 Prozent, der Staat 25 Prozent tragen. Diese rund 75 Millionen Euro hat das Syndikat aus eigenen Rücklagen finanziert, wie Van Wissen und Christophory erklären. Seit 1998 wurden alle Überschüsse im Hinblick auf Zukunftsinvestitionen zurückgelegt, anstatt dass den Syndikatsmitgliedern Dividenden gezahlt oder die Abfalltaxen gesenkt worden seien. „So wurde vermieden, dass alle Sidor-Gemeinden mehr oder weniger gleichzeitig Schulden aufnehmen mussten, um die Anlage zu bauen“, so die Beamtin Van Wissen, die unterstreicht: „Das hier ist kein Public-Private-Partnership.“ Auch wenn EEW die Anlage geplant und gebaut hat und sie auch betreibt.
Allerdings hat Sidor im Zuge der neuen Ausschreibung mehr Verantwortung an den privatwirtschaftlichen Betreiber übertragen. Hatte der vorherige Betreiber, Solucom, eine obligation des moyens, steht der neue Vertragspartner EEW mit Resultaten in der Bringschuld. Das heißt, EEW muss den Abfall annehmen und weiterverarbeiten, auch wenn der Ofen mal aus ist. „Voher musste das Syndikat dann selbst nach Alternativen suchen“, sagen die Sidor-Beamten. Der Betreiber EEW behält, auch das hat sich geändert, die Einnahmen aus der Stromgewinnung und der Fernwärme ein, ist also auch finanziell haftbar, wenn die Produktion ausfällt. Wesentlich billiger wird die Abfallverarbeitung durch den Bau der neuen Einrichtung nicht. Rund 115 Euro die Tonne betrugen die Betriebskosten der alten Sidor, 93 Euro die Tonne die der neuen Verbrennungsanlage. Doch während letzteres ein Nettopreis ist, müsste man zum besseren Vergleich von den 115 Euro, die bei der Vorgängeranlage anfielen 11,62 Euro abziehen, die das Syndikat für den Stromverkauf kassierte. Auch für die Entsorgung der Schlacken, die in Deutschland nach dem Entzug der Metalle für den Straßenbau verwendet werden, und der Einbunkerung der Stäube ist EEW, nicht Sidor verantwortlich.
Die Verbrennungsanlage produziert Strom für 28 000 Haushalte und Fernwärme für 3 000 Haushalte. Mit der Fernwärme soll ab 2013 nicht nur das Gewerbegebiet auf der Cloche d’or beheizt werden, sondern auch der neue Stadtteil Ban de Gasperich soll and die Fernwärme aus Leudelingen angeschlossen werden. Dafür müssen aber noch zwölf Kilometer Leitungen – sechs hin und sechs zurück – querfeldein von Leudelingen nach Gasperich gezogen werden. „Das kann relativ schnell gehen“, gibt sich Vincent Mousel, Veranwortlicher des Energiedienstes der Stadt Luxemburg, optimistisch. Mit 120 Grad Celsius werde das Wasser in Leudelingen ausgekoppelt. Der Temperaturverlust unterwegs betrage nur wenige Grad, so dass das Heizwasser mit 115 Grad in Gasperich ankomme. Kunden, die sich dort an das Fernwärmnetz anschließen, werden den Einheitstarif der Stadt Luxemburg zahlen, die ihrerseits die Lieferverträge mit EEW abschließt.
Bioabfälle: 33 ProzentTextilien, komplexe Materialien, gefährliche Abfälle: 23 ProzentZeitungen, Papier, Karton: 20 ProzentPlastik: 17 ProzentGlas: vier ProzentMetall: drei Prozent