David Mouchtar-Samorai inszeniert Becketts Endspiel mit Theater-Urgesteinen am TNL und setzt ganz auf Text und Spiel

„Alles ein verlorenes Endspiel“

d'Lëtzebuerger Land du 06.12.2024

Geht die Welt auch zu Ende, spielen wir doch weiter! So in etwa lässt sich nicht nur das Motto der derzeitigen Spielzeit am TNL auf den Punkt bringen, sondern auch Samuel Becketts Endspiel, das als ein Höhepunkt dieser Saison beworben wurde.

Das Stück gilt als eines der Urwerke des absurden Theaters. Es hat keine Handlung im eigentlichen Sinn, zumindest entwickeln sich die Figuren im Laufe des Stücks nicht. Vielmehr stehen sie vor einer apokalyptischen Situation in einem Raum, aus dem sie nicht mehr entkommen.

Stillstand und Bewegungslosigkeit sind das Thema der Werke Becketts. Er zeigt anhand der Negativität an Figuren, die nicht mehr handeln, die bei lebendigem Leibe absterben, denen die Sprache und der Geist versagen, deren Bewegungsapparat eingeschränkt ist, und das alles vor einem in Schwarz- und Grautönen gehaltenen Hintergrund, eine darin nicht aufgehende Leerstelle.

Beckett hatte kurz zuvor dem Sterben seines Bruders zusehen müssen und die Erfahrungen des Wartens auf etwas Unvermeidliches in seinem Endspiel verarbeitet. Vermutlich hatten aber auch der Korea-Krieg und der sich zuspitzende Kalte Krieg Einfluss auf die Entstehung des Stücks. Beckett verfasste es seinerzeit auf Französisch, um sich zu zwingen, sich jedes einzelne Wort abzuringen. Auch daher rührt die Sprachintensität von Endspiel.

Seine Gestalten stehen beziehungslos in einer sinnlosen Welt. Es gibt viele Fragen, doch kaum gültige Antworten. Oberflächlich dominiert Resignation: „Das ganze Leben dieselben Albernheiten.“

Die Menschen leben in einem Zustand, der von Langeweile und völliger Sinnfreiheit jeglicher Tätigkeit gekennzeichnet ist. Das Leben ist absurd geworden und es gibt keine gültigen Deutungen mehr, nur das Spiel, mit dem sich der Schmerz der menschlichen Existenz betäuben lässt.

Angesichts der Weltlage könnte Becketts Stück als aktuelle Zeitdiagnose gelten. Nur zwei Fenster erlauben den Blick nach draußen, auf der Bühne des TNL erweisen sich sogar diese als Attrappen. Das minimalistische, klaustrophobisch wirkende Bühnenbild bildet also den idealen Rahmen. Die Wände sind weiß, eine Treppe lehnt an einer Wand und führt ins Leere, kein Entkommen.

Protagonist Hamm ist nicht nur lahm, sondern auch blind. André Jung kauert in der Rolle des Hamm, mit Sonnenbrille gebrechlich in einem Stuhl versinkend, im Zentrum der Bühne. Der Moribunde ist festgebunden und braucht offenkundig Schmerzmittel. So ist er ganz und gar von dem ihm dienenden Clov (Ulrich Kuhlmann) abhängig, den er im vollen Bewusstsein dessen dennoch nach (letzten) Kräften schikaniert. Doch auch Clov ist ihre gegenseitige Abhängigkeit klar, denn nur Hamm weiß, wie man an Essen gelangt. Wenn er seine Drohung umsetzt, Clov die Nahrung zu entziehen, würden beide sterben.

Ursprünglich sind auch Hamms Eltern in dem Raum gefangen; sie sprechen über den körperlichen Verfall und darüber, wie sie an Essen kommen. Hamm tyrannisiert die anderen, während sie alle dem Ende entgegensehen. „Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende“, so Clov. Der Titel bezieht sich auf jene Phase beim Schach, in der nur noch wenige Figuren auf dem Brett stehen und gute Spieler bereits erkennen, wie die Partie ausgehen wird.

Regisseur David Mouchtar-Samorai, der vor einer gefühlten Ewigkeit am Schauspiel Bonn inszenierte, hat die Figurenkonstellation und die ohnehin kurze Handlung auf ein knapp einstündiges Zwei-Personen-Stück mit André Jung in der Rolle des Hamm und Ulrich Kuhl-
mann als Clov verdichtet. Hamms Eltern Nagg und Nell fallen in seiner Inszenierung am TNL unter den Tisch.

Damit stellt er unmittelbar klar, dass er Beckett durch und durch verstanden hat. Seine Reduktion der Form stellt den Versuch dar, eine gesellschaftliche Erfahrung zu artikulieren. Die karge Komposition Prelude to Endgame von Philip Glass (Glass ließ sich 1984 von Endspiel zu einer Ouvertüre für Kontrabass und Pauken inspirieren) schwingt den Raum ein und lässt vielleicht doch am ehesten einen Ausweg erklingen.

Der Dialog auf der Bühne läuft von Anbeginn ins Leere. Stattdessen clowneske Gesten und eine untergeordnete, monotone Sprache. „Du solltest gehen!“, grient etwa Hamm. „Das versuche ich seit meiner Geburt“, entgegnet ihm Clov.

Immer wieder zitiert Hamm Clov mit einer Trillerpfeife herbei. „Wenn du mich verlässt, wie würde ich das merken?“, fragt ihn Hamm. „Dann pfeifst du eben, und wenn ich nicht gelaufen komme, habe ich dich halt verlassen“, entgegnet Clov.

In dem vermeintlich asymmetrischen Verhältnis wird eines sehr deutlich, wenn Hamm fragt: „Wir fangen doch nicht an, etwas zu bedeuten?“ Dann scheint es so, als liege die gesamte „Bedeutung“ des Stücks im Ringen der beiden Überlebenden um den jeweils anderen.

Die sinnlosen und chaotischen Weltzustände seien nur „die andere Hölle“, sagte Beckett einst. In seinem Endspiel ist es Hamm, der feststellen wird: „Jenseits ist die andere Hölle. Die Welt stinkt.“ Doch zunächst machen Hamm und Clov die Hölle der zwischenmenschlichen Beziehungen auf Erden deutlich und vertreiben sich mit sinnlosen Ritualen und Demütigungen die Zeit. Das funktioniert gut, denn die beiden Schauspieler spielen nuanciert und auf Augenhöhe.

„Alles verlorenes Endspiel. Friede unseren Ärschen“, wird Hamm es gegen Ende der einstündigen Inszenierung unflätig auf den Punkt bringen. Vorher hat Clov ihn mit einem schwarzen Stoffhund beworfen und ist um ihn mal triumphierend wie Rumpelstilzchen, mal devot herum geschlichen und herum getanzt, zwischen Unterordnung und Angriffslust mäandernd.

Der starke Text und die beiden Schauspieler tragen das Stück. Sie schaffen es durch ihr Spiel, mitunter deprimierende Momente auch in groteske Komik zu übersetzen. Wenn Clov etwa übertrieben fleht, von Hamm nicht weggeschickt zu werden, möchte man sich kringeln.

Die Quintessenz von Becketts Endspiel wird klar herausgestellt: Die Parodie der Parodie ist die Parodie – von der man nicht mehr weiß, ob sie wirklich oder unwirklich ist.

In der unaufgeregten Inszenierung am TNL beweisen André Jung und Ulrich Kuhlmann einmal mehr, dass sie keine bloßen Selbstdarsteller sind, die Grimassen vor dem Spiegel üben, sondern hochkarätige, ja eben richtige Darsteller.

Anina Valle Thiele
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