Zum Kulturentwicklungsplanungsprozess

Warten auf den Staat?

d'Lëtzebuerger Land du 15.07.2016

Ein Regierungsprogramm stellt eine Agenda für fünf Jahre dar. Die Agenda für die Kultur 2013-2018 sieht die Erarbeitung eines Plan de développement culturel (S. 138) vor, einer mittel- und langfristigen Strategie mit klar definierten Zielsetzungen, die möglichst alle Akteure zufriedenstellen soll. Nebenbei stellt der Plan eine Wunschliste dar, die dem heiligen Nikolaus in Gestalt des Kulturministeriums dazu dient, alle artigen und bequemen Künstler und Vereine mit Geld in mal mehr, mal weniger reichlicher Form zu beschenken. Wird der inflationär benutzte Begriff „Kultur“ definitorisch mit „Lebensweise“ gleichgesetzt, dann muss der Nikolaus zahlreiche Akteure finanziell zufriedenstellen.

Zahlreich waren sie auch zu den ersten Assises culturelles gekommen. Die früher Forum de la Culture genannte Veranstaltung fand am 1. und 2. Juli statt und erinnerte an den Conseil national de la Culture (1980), der an idealistischer Überdimensionierung schlicht zugrunde ging. Und dennoch taucht dieses Gremium regelmäßig als politische Forderung auf (Weißbuch 1998), wie so vieles aus den 1970er Jahren. Denn in den liberalen 1980er Jahren begann in den Demokratien weltweit der progressive Rückzug des Staates aus dem Kulturbereich. Und er dauert bis heute an.

Quasi im Zwanzig-Jahre-Rhythmus werden Strategiepapiere des Kulturministeriums in Buchform veröffentlicht. Unter Minister Robert Krieps (LSAP) machte La vie culturelle au Grand-Duché im Mai 1977 den Anfang. Im Januar 1998 folgte unter Erna Hennicot-Schoepges (CSV) das Livre blanc de l’infrastructure culturelle. Wie so oft, sind am Ende alle Forderungskataloge am Geld gescheitert. Kultur muss sich auszahlen, ohne viel zu kosten! So der Grundsatz, seit es in diesem Land ein Ministerium für kulturelle Angelegenheiten (15.07.1964) gibt. Auch wenn diese Dokumente irgendwann stillschweigend in eine Schublade gelegt wurden, eignen sie sich bis heute zum Abschreiben. Der 2016-17er Kulturentwicklungsplan, unter Xavier Bettel (DP), wird das liberale Vermächtnis.

Der aktuelle Staats- und Kulturminister kann sich jedoch glücklich schätzen und auf aktualisierte Vorarbeiten zurückgreifen. Denn 2008 arbeitete die Privatinitiative Forum Culture(s) ein Manifeste pour un Pacte culturel aus. Am 6. Dezember 2008, vor den Wahlen von 2009 also, hatten alle (!) Parteien den Pacte culturel unterzeichnet. Was sämtliche künftige Kulturentwicklungsplanredakteure nur beflügeln konnte, diesen Pakt zu kopieren. Allerdings ist der Kulturpakt lücken- und streckenweise fehlerhaft. Ebenso kann ein Kulturentwicklungsplan nie alle Erwartungen erfüllen. Eine Verteilungsgerechtigkeit wird niemals existieren. „Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik.“ (Weber, Forum, Nr. 298, 2010). Anders ausgedrückt: Kulturpolitik und Kulturentwicklungspläne haben eine bestimmte politische Orientierung.

Seit Generaldirektor Etienne Schmit (1925-26) ist die staatliche Kulturpolitik nach 87 Jahren erstmals wieder in den ministeriellen Händen einer liberalen Partei. Dem Wesen des Liberalismus nach würde Kulturpolitik sich auf folgende Schlagwörter reduzieren: wenig Staat; wenig Bürokratie; Kultur als Budgetverbrennung, jedoch „nice to have“; Fokus auf Beratung, Begleitung und auf Rahmengesetze; mehr Privatinitiative, Verstärkung der Philanthropie; weitreichende Gestaltungs- und Entscheidungsgewalt für nicht-staatliche Institutionen. So jedenfalls in der Theorie.

Falls die luxemburgische Kultur Teil der europäischen Kultur sein sollte (sie ist es!), so sollten europäische Trends berücksichtigt werden. Ein aktueller, auf europäischer Ebene eher seltener Bericht, The libraries and museums of Europe in times of change des Europarates (Nr. 13984, 15.02.2016), spiegelt diese Entwicklungen wider. Denn es wird sich auf die „smaller public institutions which play a crucial role in their local community“ (B.1.5.) konzentriert. Weiterhin wird Wert auf die Fortbildung des Personals (Professionalisierung), die Finanzierung durch alternative Quellen (finanzielle Autonomie), die Anbindung an fachlich qualifizierte Netzwerke (internationale Kooperation), die Einbindung von ehrenamtlichen Kräften (Personalkostenreduzierung) und die Förderung der Nutzung der digitalen Technologien (Einsparung von Printmedien) gelegt. Bei der Finanzierung wird vor allem der Philanthropie eine größere Bedeutung zugemessen. Für politisch Linksgerichtete ist diese jedoch gleichbedeutend mit der seit mehr als 100 Jahren verhassten Barmherzigkeit (Charité/Almosen) – und mit (groß-)bürgerlicher Kultur sowieso.

Die Veranstaltung der Fondation Robert Krieps am 18. April dieses Jahres im Auditorium des Cercle-Cité, zum Thema „Un plan de développement culturel pour le Luxembourg“ überraschte die Zuhörer mit einem höchst professionellen Vortrag des geladenen Gastes Patrick Sinclair Föhl (Jahrgang 1978). Abgesehen von der anschließenden Diskussionsrunde, mit Schelte gegen die Ministerialbürokratie („inkompetent!“/Audit-Forderung) und einem spürbaren Neid, dass die LSAP nicht den Kulturminister stellt, präsentierte der Kulturmanagement-Lehrbeauftragte Föhl folgende Erkenntnisse:

– Kulturentwicklungspläne setzen keine (!) Kulturleitlinien (Welche Kultur wollen wir?), beschäftigen sich mit zeitgemäßen Förderprozessen, Prozeduren und Rahmenbedingungen.

– Vorab müssen Einzel-Gespräche mit tatsächlich allen (!) Akteuren geführt werden.

– Sich immer die Frage stellen: Welche Institutionen benötigen wir in 20 Jahren?

– Die Digitalisierung hat einen großen Einfluss auf aktuelle Entwicklungen.

– Es herrscht ein großer Bedarf an Koordination in allen kulturellen Bereichen.

– Es müssen Prioritäten gesetzt werden, da das Programm-/Agenda-Heft schnell voll ist. Die Prioritäten müssen von der Politik gesetzt werden.

– Die Mikroförderung, insbesondere im ländlichen Raum durch kleine Beiträge (zum Beispiel 500 Euro), stellt ein Modell für entlegene und wirtschaftlich unterentwickelte Regionen dar. Man spricht von so genannten Mikrofonds für kleine Institutionen, im Gegensatz zu den üblichen Großeinrichtungen (die über Personal zur oft komplizierten Projektbeantragungs-Bearbeitung verfügen).

– Die Identifikation mit der Region beziehungsweise einer Kommune ist überaus wichtig. Eine Publikumsmehrung über Events und entsprechendes Marketing reicht nicht aus, beziehungsweise ist zu kurzfristig angelegt – und in der Regel zum Scheitern verurteilt.

– Kulturmanagement bedeutet Zwischenraum-Management (beziehungsweise Zwischenraum-Förderung). Es fehlt generell an politisch unabhängigen Institutionen, die zwischen Staat und Nicht-Staat (wie Gemeinden oder Vereinen) vermitteln.

Am Ende des Vortrags konnte folgende Bilanz gezogen werden: Für den Mikrostaat Luxemburg mit seinen zahlreichen „small public institutions“ wäre eine Mikroförderung mit entsprechenden nicht-kommerziellen Zwischen-Organisationen (Rechtsform: Stiftungen und Vereine) eigentlich geradezu ideal. Dieses Fazit traf allerdings nicht jedermanns Geschmack, das Medienecho blieb sehr begrenzt.

Der politische und in der Tat vermeidbare Fauxpas geschah bereits in der Vorstufe. Zu den Vorarbeiten zu den Assises culturelles waren von Februar bis April 2016 nur ausgewählte Personen eingeladen. Diese Vorgehensweise entzieht dem definitiven „Kulturpabeier“, das bottom-up zustande gekommen sei, so Staatssekretär Guy Arendt am 1. Juli im Grand Théâtre, die basisdemokratische Grundlage. Die Resultate der Sektoren-Gruppen lassen sich in den meisten Bereichen in folgenden „Mehr“-Stichwörtern zusammenfassen: mehr Definitionen; mehr Dialog/Kommunikation; mehr Koordination zwischen Institutionen; mehr interministerielle/-institutionelle Zusammenarbeit; mehr langfristig ausgerichtete Politik; mehr Statistiken; mehr Professionalisierung der Sektoren und des Ministeriums; mehr kulturelle Bildung/Erziehung (gegen den „Kultursaboteur“ Schule); mehr Export-Agenturen (Vorbild: Music:Lx); mehr Kreativität ermöglichen; mehr Beiräte (Conseil …) gründen; mehr Budget; mehr nationale finanzielle Fonds pro Sektor schaffen.

Überraschenderweise soll der Staat die Gründung von Vereinen und Verbänden in die Wege leiten, wozu der jeweilige Kulturbereich einfach nicht im Stande zu sein scheint. Das ist eine Bankrotterklärung der Privatinitiative, des freiheitlichen Vereinswesens! Wie oft wurde und wird der Staat mit Fördergeldern erst dann aktiv, wenn die Privatinitiative gefruchtet hat?

Im Allgemeinen ist folgende beängstigende Beobachtung zu machen: Die Mehrheit der beteiligten Kulturakteure wünscht sich eine starke Rolle des Staates. Der Kleinstaat verkommt zum Stadtstaat. Doch Luxemburg ist nicht Singapur! Wenn auch nicht das „reinste Demokratennest“ (Obermosel-Zeitung, 09.07.1929), stellt Luxemburg jedoch kein autoritäres politisches System dar. Singapur dagegen entfernte beispielsweise vor zwei Jahren homosexuelle Aufklärungsliteratur (Kinderbücher inklusive) aus seinen stadt-staatlichen Bibliotheken. Seltsamerweise werden, neben einer geforder ten starken Zentralstaatsrolle, nirgends und nie klar definierte Regionen erwähnt. Einer Nationalisierung der Kultur im früheren plat pays, außerhalb von Luxemburg-Stadt, wird jedoch gleichzeitig per „Dezentralisierung“ widersprochen.

Am 1. und 2. Juli hätten sich 548 angemeldete Teilnehmer zu Wort melden können. Ein Ding der Unmöglichkeit. Trotzdem wurde massenhaft Frust abgelassen. Statt Fragen kam es vor allem zu Kommentaren, politischen Stellungnahmen und viel Klamauk. Hinzu kam die kulturrevolutionäre Pöbelei der pubertierenden Organisation Richtung 22. Zugegeben, Kulturpolitik ist hochpolitisch. Der Verfasser dieses Artikels kann deshalb nicht anders, als die Veranstaltung subjektiv folgendermaßen zu resümieren:

– Fördern statt Fordern! Dekretiertes Vorschreiben bestimmter Aktivitäten per Konventionen ist unsinnig.

– Demokratie beinhaltet Autonomie! Unabhängige Institutionen, wie etwa eine maltesische Behörde namens Arts Council, die jedoch das Vertrauen des Ministeriums genießt, können Welten bewegen.

– Es kann einfach kein Schulfach „Kultur“ geben! Denn auf welche von mindestens 756 Kulturen (Henscheid) könnte es sich beschränken?

– Statistiken müssen her! Mehr Koordination auch.

– Bei der Forderung nach Gründung neuer Strukturen und Wiederbelebung ehemaliger gehörten (wieder mal) dazu: ein nationaler Kulturrat und sonstige Räte („Braddelgremien“, so Robert Garcia), eine Künstlergewerkschaft (erste Gründung 1991), eine Berufskammer der Kulturschaffenden, ein Observatorium, ein Laboratorium ...

–„Wir“ müssen dies und das … Nur wer ist „wir“? In der Privatwirtschaft wird bei Aussagen wie „Man müsste“ und „Jemand müsste“ vom „Magic department“ gesprochen.

– Wieso geht es dem Musiksektor in Luxemburg so gut? Was machen diese Akteure auf staatlicher, kommunaler und privater Ebene richtig?

Die Zusammenfassung der Assises enthielt keine Überraschungen. Erfrischenderweise fiel Jo Kox, der Präsident des Nationalen Kulturfonds, aus der Rolle. Auch wenn sein Bericht von der Moderation vorzeitig beendet wurde, war die Richtung dennoch erkennbar: Jeder Kulturakteur ist für seine Zukunft selber verantwortlich! Ohne Hilfe des Staates, von Regierungsbeamten, jedweder LX-Agenturen, des Kleeschen und so weiter.

Viele, ja: zu viele Akteure warten fast lethargisch auf den Staat. Möge er alles richten! Nur kann er es nicht. Welche Option existiert jedoch, falls die Regierung etwas im Kulturentwicklungsplan vergessen sollte? Was tun die Verlierer?

Nun, wenn die Exekutive (Ministerium) keine Einsicht erkennen lassen sollte, so bleibt der Weg über die Legislative (Parlament) stets offen. Parteien aufsuchen, interessierte Parlamentarier für die Sache gewinnen und so weiter. Dieser Prozessschritt wird in der Politikwissenschaft „Agenda setting“ genannt und ist auch außerhalb eines Regierungsprogramms möglich. Allerdings verlangt dieser Weg eine proaktive statt reaktive Vorgehensweise, die mit mehr persönlichem Einsatz und geistiger Arbeit verbunden ist. Außerdem sollten die Forderungen eine gewisse Aktualität widerspiegeln. Wer erinnert sich noch an das Poesie-Telefon?

Jean-Marie Reding
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