Als vor sechs Jahren für die Stadt Luxemburg ein Sozialbericht geschrieben wurde, erzählte der auch die Geschichte einer Aufspaltung der Bevölkerung je nach Einkommenslage auf unterschiedliche Quartiers (d’Land, 10.04.2008). Die Bessergestellten seien eher in den „höher gelegenen“ Stadtteilen wie Belair, Limpertsberg oder Kirchberg ansässig, sozial Schwache dagegen in den Tal-Quartiers an der Alzette, im Bahnhofsviertel und in Bonneweg. Wobei dort noch unterschieden werden müsse zwischen dem bürgerlicheren Bonneweg-Süd und dem ärmeren Bonneweg-Nord. Quer durch die Hauptstadt verlaufe ein „sozialer Riss“.
Eine ähnliche Übung hat das Belvaler Ceps-Instead jetzt für das ganze Land vollzogen. Der Bericht La cohésion territoriale: quels enjeux? entstand noch im Auftrag der vorigen Regierung. Seine wichtigste Feststellung lautet: Mit Ausnahme der Hauptstadt besteht in fast allen anderen urbanen Zentren eine „tendance à la paupérisation relative“. Die Politik müsse den „centres urbains secondaires“ zu einer regelrechten „seconde chance“ verhelfen. Sonst drohe vielleicht keine „ghettoisa-tion“ wie in Städten im Ausland, aber eine „décohabitation“ unter den Bevölkerungen. Und weil die ein Kunterbunt verschiedener Nationalitäten sind, drohe dann womöglich ein Abgleiten in einen Identitätswahn – zumal vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Austeritätspolitik.
Veröffentlicht wurde die Ceps-Studie noch nicht. Eine Pressekonferenz wurde zweimal wieder abgeblasen. Im April wurde sie aber im parlamentarischen Nachhaltigkeitsausschuss diskutiert. Und ab kommenden Mittwoch wird auf sie zurückzukommen sein: Dann stellt die Regierung in der Abgeordnetenkammer die vier seit 2008 angekündigten Plans sectoriels für die Raumplanung vor. Den ganzen Tag nehmen sich vier Minister und ein Staatssekretär Zeit dafür. Die Pläne werden beschreiben, wo in den kommenden Jahren in Luxemburg welche Verkehrswege verlaufen, wo neue Gewerbe- und Industriegebiete angelegt und wo bevorzugt Wohnungen entstehen sollen. Und wie all das in dem kleinen Land zu schaffen ist, ohne schützenswerte Landschaften und Naturräume zu beeinträchtigen. Vor dem Hintergrund des Ceps-Berichtes wird allerdings einmal mehr klar, dass der „politischste“ der vier Pläne der über den Wohnungsbau ist.
Denn La cohésion territoriale: quels enjeux? stellt nicht nur fest, worüber Geografen und Landesplaner schon oft geschrieben haben: Dass die Wirtschaftsaktivität und die Arbeitsplätze vor allem in der Hauptstadt konzentriert sind und ihr Schlafgemeinden-Umland immer größer wird, im Westen bis nach Steinfort reicht und im Süden bis nach Frisingen, nordwärts bis kurz vor Mersch und gen Osten über Junglinster hinaus.
Dazu liegt nun auch ein sozialer Befund vor, und der liest sich so: In vielen größeren Gemeinden ist der Anteil der Einwohner, die unter prekären Verhältnissen leben, hoch. In den meisten Städten im Landessüden lag die Arbeitslosenrate der lokalen Bevölkerung im Jahr 2011 zwischen acht und zehn Prozent, in Esch und Differdingen sogar bei bis zu 13 Prozent. Beträchtlich ist der Arbeitslosenanteil auch in Grevenmacher, Mertert und Remich, im Müllerthal, in der Nordstad, im hohen Norden zwischen Eschweiler und Ulflingen, und so hoch wie in Esch-Alzette oder Differdingen war er auch in Wiltz, Vianden und Echternach.
Ähnlich konzentriert sind auch die RMG-Empfänger, noch stärker die Bezieher kleiner Einkommen. So gut wie im ganzen Ösling, im Müllerthal und im Süden beträgt der Anteil der auf die Sozialhilfe Angewiesenen 4,5 bis sechs Prozent der Einwohner, in Wiltz, Ettelbrück, Differdingen und Esch/Alzette ist er noch höher. Bis zu 27 Prozent unter dem nationalen Medianeinkommen aus bezahlter Arbeit – Vermögens- und Kapitaleinkünfte sind notorisch nicht rezensierbar – liegen die Einkommen der Bürgerinnen und Bürger in Ulflingen, Clerf, Wiltz, Ettelbrück, Diekirch, Reisdorf, Beaufort, Esch/Sauer, Larochette, Echternach, Petingen, Rümelingen und Esch/Alzette. Dagegen sind die Bewohner eines weiten Umkreises um die Hauptstadt Besserverdiener: Bis nach Nommern im Norden, nach Küntzig im Westen, Manternach im Osten und Schengen im Süden reicht der Kreis der Gemeinden, in denen die Arbeitseinkünfte der Bevölkerung bis zu 45 Prozent über den nationalen Median hinausreichen. Das ist auch in ein paar „Inselgemeinden“ im Nordwesten der Fall: in Ell, Pratzertal, Saeul und Neunhausen.
Wie das Ceps feststellt, handelt es sich dabei um längerfristige Prozesse. Im unmittelbaren Hauptstadt-Umland, in Strassen, Mamer, Hesperingen oder Niederanven, nahmen zwischen den Jahren 2001 und 2008 die Brutto-Arbeitseinkommen der Bürger um 15 bis 20 Prozent zu. Im weiteren Umland, zum Beispiel in Manternach, Frisingen, Garnich, Fischbach oder Useldingen, dagegen um mehr als ein Fünftel. Weil das nicht an lokalen Wirtschaftsaufschwüngen liegt, sondern am Zuzug in Luxemburg-Stadt Tätiger, erkennt man daraus auch, wie sich ein wohlhabenderer Teil der Landesbevölkerung nach und nach immer weiter entfernt von der Hauptstadt niederlässt – dabei jedoch die nach Luxemburg-Stadt nächstgrößeren Städte meidet. Wobei in den unmittelbaren Nachbargemeinden der Hauptstadt, aber auch in dieser selbst, die Einkommensunterschiede unter der Bevölkerung besonders stark sind. In Luxemburg-Stadt, Strassen, Bartringen, Mamer, Niederanven, Kopstal, Steinsel und Weiler-zum-Turm hatte das am besten verdienende Fünftel der Bürger ein bis zu 6,7 Mal höheres Einkommen aus bezahlter Arbeit bezogen als das am schlechtesten verdienende Fünftel. Das Ceps kommentiert: In Luxemburg-Stadt habe man es tatsächlich mit „des populations aux salaires très variés, dans les deux extrêmes“ zu tun. In den Randgemeinden dagegen werde das obere Einkommens-Fünftel durch „einige“ ausgesprochene Großverdiener nach oben gezogen. Soll heißen: Die Reichen wohnen in Strassen oder Kopstal. Die Armen in Esch/Azette, Differdingen, Hoscheid oder Wiltz. Dort, wo das besten verdienende Fünftel der Leute über ein höchstens 3,5 Mal höheres Einkommen verfügt als die am schlechtesten verdienenden 20 Prozent.
Aus all den Sozialdaten wurde für den Ceps-Bericht ein sozioökonomischer Bevölkerungsindex gewonnen (siehe nebenstehende Illustration). Und der beschreibt die Krise der Städte. Nicht nur sind die Bevölkerungen der zweit- und der drittgrößten Stadt des Großherzogtums besonders schlecht gestellt, wie auch die von Wiltz, Echternach und Ettelbrück. Die so genannten Centres de développment et d’attraction (CDA) sind auch diejenigen Gemeinden, die eigentlich schon seit 1999 prioritär entwickelt werden und bevorzugt wachsen sollen. Nicht zuletzt zur Eindämmung des Autoverkehrs propagiert nicht erst die neue Regierung das „Wohnen in der Stadt“ und das „dichtere Bauen“, durch das urbane Zentren mehr Gewicht erhalten sollen. Nun jedoch zeigt sich, dass lediglich Junglinster, Steinfort und Redingen an der Attert zu den sozial bessergestellten Zentren zu rechnen sind.
Was sich dahinter für Dynamiken verbergen, kann der Ceps-Bericht nicht vollständig erklären. Zum Beispiel, warum die Luxemburger an der Bevölkerung seit Jahren aus den Städten in die Dörfer fliehen, etwa nach Ell oder Beckerich, und weshalb in Gemeinden wie Erpeldingen, Waldbillig oder Winseler der Ausländeranteil zwischen 2001 und 2011 abgenommen hat, während er in Nachbargemeinden um bis zu zehn Prozent wuchs. Generell gebe es vier sozioökonomische „types d’espaces“, so der Bericht. Zum einen die kosmopolitische Hauptstadt, die aus allen möglichen Gründen Menschen verschiedener sozialer Herkunft anzieht, aber eher keine Luxemburger; zweitens das „periurbanisierte“ Umland, in dem sich bevorzugt wohlhabende Luxemburger niederlassen, drittens die Luxemburger auf dem Lande, und viertens die ärmeren Ausländer in den „villes secondaires, plutôt défavorisées“.
Klar ist aber, dass die Grundstücks- und Wohnungspreisentwicklung viel zu den Polarisierungen beiträgt. Kostete im Jahr 2012 die laut Volkszählung von 63 Prozent der Landesbevölkerung bevorzugte Wohnform, ein Einfamilienhaus, den Verkaufsanzeigen zufolge im Landesdurchschnitt 596 348 Euro, lagen die Preise im Hauptstadt-Großraum von Schüttringen bis Mamer und Simmern bis Frisingen bei durchschnittlich einer Dreiviertelmillion, dagegen bei unter 450 000 Euro im Kanton Wiltz, aber auch in Petingen oder in Rümelingen.
Die hohen Preise sind, meint der Ceps-Bericht, „probablement le plus grand frein à la cohésion sociale et territoriale au Luxembourg“. Denn letzten Endes entscheide die Finanzkraft eines Haushalts darüber, wie weit die Freiheit reicht, seinen Wohnsitz dort zu nehmen, wo man möchte. Die Differenzierung in „reiche“ und „bescheidene“ Gemeinden ziehe „potentiellement toute une série de processus nuisibles à la cohésion sociale et territo-riale“ nach sich. „Que ce soit au niveau de l’éducation fondamentale ou de l’action sociale, le fait que les écarts se creusent entre les communes génère un cercle vicieux qui tend à amoindrir l’égalité des chances entre les individus et à empêcher l’établissement d’une plus grande mixité sociale.“
Dass unbedingt mehr „mixité“ herzustellen sei, hatte Nachhaltigkeitsminister François Bausch (Grüne) erklärt, als er den Bericht vor sechs Wochen im Parlament zur Diskussion stellte. Aber es sieht so aus, als hätten weder der Fonds de logement, noch die Société nationale des habitations à bon marché bisher für genug erschwinglichen Wohnraum gesorgt. Ebenso wenig wie die Wohnungsbaupakte zwischen Gemeinden und Staat, die seit 2008 mehr als eine Viertelmilliarde Euro gekostet haben, oder die Vorschrift, nach der in jedem Teilbebauungsplan, der eine Brutto-Baufläche von einem Hek-tar oder mehr betrifft, ein Zehntel der Nettofläche oder jede zehnte geschaffene Wohnung für Käufer reserviert werden muss, die anspruchsberechtigt auf staatliche Kauf- und Zinsbeihilfen sind.
Wie die neue Regierung das Problem lösen will, wird dem Plan sectoriel Logement zu entnehmen sein. Der Nachhaltigkeitsminister hatte im April erklärt, die Befunde der Ceps-Studie seien in den Plan eingeflossen. Er werde nicht nur kommunale „Siedlungsschwerpunkte“ festlegen, sondern auch „vier bis sechs“ Wohnungsbau-Großprojekte, die kurzfristig realisiert werden sollen.
Staatliche Besiedelungsinitiativen dürften allerdings nicht reichen, um das Wohnen in den Städten zu fördern, die kleiner sind als die Hauptstadt, und Luxemburger, aber auch wohlhabende Ausländer dafür zu interessieren. Doch die Städte aufzuwerten, liegt nicht nur nahe, um Polarisierungen in der Bevölkerung vorzubeugen, sondern auch, weil urbane Zentren ihren Bürgern an kommunalen Leistungen zu bieten vermögen, was erst ab einer kritischen Masse von Nutzern sinnvoll ist. Die Städte zu vernachlässigen und zuzuschauen, wie Schlafgemeinden und Dörfer weiter wachsen, wäre nicht nur sozial riskant, sondern obendrein eine Verschwendung öffentlicher Mittel.
Dabei steht Luxemburg vor neuen Bedingungen: In den Jahren vor der Krise war die Bevölkerung viel stärker gewachsen, als ein IVL-Konzept vorhergesagt hatte, aber das BIP wuchs mit fünf bis sechs Prozent jährlich noch mehr. Heute ist die Regierung froh, wenn die Statistiker zwei Prozent prognostizieren, doch die Bevölkerung wächst ungebrochen weiter und nimmt seit 2012 sogar noch stärker zu als vorher. Für den „Zusammenhalt“ der Leute übers ganze Land, der in den fetten Jahren wie vom lieben Gott gegeben erschien, aber nie wirklich existiert hat, muss nun ausgerechnet in einem Moment gesorgt werden, da es vielleicht nie wieder ein goldenes Zeitalter geben wird.