Die Frage ist obsolet, ob es naiv oder mutig ist, den Weg zu Hebbels Judith in der Arrière-Scène des Grand Théâtre mit überaus durchwachsenen Rezensionen der deutschsprachigen Presse zu säumen. Wer die Bewertung der Inszenierung des Deutschen Thea-ters Berlin vorab gelesen hatte, musste angesichts der angekündigten drei Stunden einen Seufzer ausstoßen oder die Latte besonders tief hängen.
Friedrich Hebbels Drama um die Titelfigur, die bestrebt ist, zum Schutz ihres Volkes der Ebräer den feindlichen Kriegsherrn Holofernes vor der Küste ihrer Heimat Bethulien zu ermorden, ist am alttestamentarischen Judith-Mythos angelehnt. Die Inszenierung von Andreas Kriegenburg droht gerade am Anfang zu scheitern. Während Holofernes und Judith die ersten Szenen sprechen, schmieren die Nebenfiguren die Wand schwarz. Es entstehen weiße Lücken, die an Strichmännchen erinnern. Ihnen werden rote Flecken beigemischt. Die Farbschicht deckt die auf die vormals weiße Wand projizierten Fotos nicht. So kann man unzählige Bilder aus weltweiten Konfliktherden, von politischen Autoritäten, halbnackten Models und Gesichtsmasken erhaschen. Beobachten, sehen, flimmern, streichen: Die Inszenierung lenkt völlig von dem ab, was ein Drama tragen muss, die Sprache, der Text. Der Prozess der Empathie, der Identifikation verschiebt sich um 30 Minuten. Mit einkehrender Ruhe beginnt Judith, nach medialem Dauerbeschuss. Bis hierhin ist Kriegenburgs Arbeit ein Krieg der Bilder, aus dem Zusammenhang gerissen. Der Text wird überstrichen, in Wandfarbe ertränkt.
Ein Element dieses Anfangs wird jedoch im weiteren Verlauf relativiert. Was sollen Hochglanzfotos im Kontext dieser Katastrophenshow? Alexander Khuon als brutaler Tyrann Holofernes sei zu nett, ein Schönling, dem man trotz der Morde, der Vergewaltigung die krude Brutalität nicht so recht abnehmen möchte, so die SZ. Dies kann man auch positiv bewerten: Ist Tyrannei und Gewalt nicht abartiger, wenn sie sich der Schönheit und leiserer Töne bedient? Als Judith ihm unter Weinkrämpfen die Bereitschaft zum Leiden verkündet, prüft er seine Fingernägel mit makellosen Soap-Augen. Ist es nicht die Tyrannei des plumpen Hochglanzes, von der wir uns ähnlich der Anfangsszene überfluten lassen? Sollte dies die Absicht des Ensembles gewesen sein, so ist sie gelungen. Wurden jene Elemente des banalen Schönheitswahns aus anderen Gründen in die Arbeit eingebunden, so passt Khuons Interpretation keineswegs.
Die rein körperliche Brutalität des Krieges jedoch bricht insbesondere in der zweiten Hälfte durch jede Pore, vibriert auf jedem Stimmband und zeigt sich in jedem Zucken von Bernd Moss und Katharina-Marie Schubert. Die schwer erträgliche Erniedrigungsszene um die blutverschmierte, verfallene Judith, die Kriegsangst der kalkweiß verschmierten, an grauem Tuch festhängenden Juden, die wahnerfüllte Orientierungslosigkeit der Magd Mirza sind große Momente mimischer Kunst. Sie verdichten die teils zu sterile Inszenierung zu ergreifenden Sequenzen, die den Zuschauern Schauder über den Rücken jagen.
Es häufen sich überzeugende Ideen wie etwa die Darstellung des pazifistischen Hohepriesters als Marionette beider Seiten, die sich längst auf den drohenden Militäreinsatz eingerichtet haben. Als Holofernes kurz vor der letzten Zusammenkunft die Beatles mit den Worten: „I once had a girl, or, should I say, she once had me?“ pfeift, betont Kriegenburg damit die Widersprüchlichkeit des Machtverhältnisses zwischen beiden Kontrahenten. Ähnliche Brüche in der Figur des Holofernes liefert Hebbel selbst, als er einen Krieger darstellt, der sich zwar verherrlicht und narzisstische Züge trägt, sich zugleich aber immer wieder Mut zusprechen muss und sich so manchen Angstseufzer hinter vorgehaltener Hand nicht verkneifen kann: „Kraft! Kraft! (...) Der Orkan durch-saust die Lüfte, er will seinen Bruder kennen lernen. Aber die Eichen, die ihm zu trotzen scheinen, entwurzelt er, die Türe stürzt er um, und den Erdball hebt er aus den Angeln. Da wird’s ihm klar, dass es seinesgleichen nicht gibt, und vor Ekel schläft er ein.“ Zusammen mit Khuons mimischer Interpretation entwickelt sich das Porträt eines Tyrannen, der die blutverschmutzten Mäntel seiner Opfer trägt, der im Vergleich zu Hebbels Figur und im Gegensatz zu Judith weniger Idee als Psyche ist. In Verbindung mit dem Schönen büßt er an Schrecken deutlich ein, an Perfidität hingegen gewinnt die Figur.
Letzten Endes entpuppt sich Kriegenburgs Judith vor allem im zweiten Teil als kraftvoll verdichtete, aber zu sehr gebastelte Inszenierung, der es in der ersten Hälfte an Achtung gegenüber der textlichen Vorlage mangelt.