Viel Feind, viel Ehr. So könnte das Motto von Victor Orban lauten. Seit seinem Erdrutschsieg 2010, der ihm und seiner Partei Fidesz eine Zweidrittelmehrheit beschert hat, hat sich Orban praktisch mit allen angelegt, die in Reichweite waren. National wie international. Die Wahlen gewonnen hatte er seinerzeit, weil eine Äußerung des sozialistischen Ministerpräsidenten im kleinen Kreis an die Öffentlichkeit gelangte. Ferenc Gyurcsany hatte sich vor der sozialistischen Fraktion offen über den verlogenen Umgang aller Regierungen seit 1990, also einschließlich der Sozialisten, mit der Wahrheit über die Staatsfinanzen geäußert. Dieses Bekenntnis zur Lüge sollte ursprünglich einen Reinigungsprozess einleiten. Statt den Ungarn zukünftig die Wahrheit über die Staatsfinanzen beizubringen, führte der Lügenskandal nur zum Sturz des Ministerpräsidenten und vier Jahre später zum Wahlsieg der Fidesz.
Gyurcsanys Botschaft, dass das Land seit Jahren weit über seine Verhältnisse lebe, ging in der Empörung über das Eingeständnis der Lüge unter. Ungarn hatte zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Kommunismus die freieste Wirtschaft. Jeder erwartete, dass das Land als Klassenbester die Umwandlung in einen kapitalistischen Staat abschließen würde. Dass es anders kam, lag nicht zuletzt am Erbe des Gulaschkommunismus. Während die DDR im sozialistischen Lager lange dafür stand, dass Planwirtschaft vielleicht doch funktionieren könnte, schien Ungarn zu belegen, dass es sich unter dem Kommunismus mit einigen marktwirtschaftlichen Elementen einigermaßen gemütlich leben ließe. Gerade weil Ungarn mehr Wohlstand zu verlieren hatte als seine ehemaligen kommunistischen Bruderländer, war es nicht im gleichen Maße zu einschneidenden Reformen bereit. In einer milderen Form kann man dasselbe Muster in der Tschechischen Republik beobachten.
Ungarn hat nach 1990 seine Sozialausgaben mit neuen Defiziten finanziert. Es hat sich damit nicht anders verhalten als die westlichen Wohlfahrtsstaaten. Nur mit dem Unterschied, dass es sich dieses Verhalten noch weniger leisten konnte als jene. Seit 2004 hat Ungarn kein einziges Mal den EU-Stabilitätspakt eingehalten. Ungarn muss dies tun, obwohl es nicht zu den Eurostaaten gehört. Mit dem EU-Beitritt hat es sich verpflichtet, langfristig auch dem Euro beizutreten. Es muss also auf die Einhaltung der Konvergenzkriterien hinarbeiten.
Zweimal hat Ungarn einen Drei-Jahres-Plan der EU zur Defizitrückführung nicht eingehalten. Zweimal hat die Kommission Ungarn den Zeitplan verlängert. Damit ist jetzt Schluss. Sollte Ungarn in diesem Jahr ein höheres Haushaltsdefizit aufweisen als drei Prozent, werden ihm 2013 bereits genehmigte 495 Millionen Euro Strukturhilfen nicht ausgezahlt. Das sind rund 30 Prozent aller ungarischen Strukturfondsgelder für 2013. Weitere Strafmaßnahmen können folgen. Nach 2015 ist das Geld für Ungarn unwiederbringlich verloren. Grundlage des Kommissionsverdikts sind die neuen Regeln der gemeinsamen Aufsicht über die nationalen Wirtschaftspolitiken, die im so genannten Sixpack zusammengefasst sind.
Unfair, antwortet Victor Orban. Wir befürworten das Sixpack, aber die Strafmaßnahmen treffen den Falschen. In der Tat hat Ungarn bereits eine Schuldengrenze in die Verfassung aufgenommen. Und sein Haushaltsdefizit liegt 2011 unter drei Prozent des Bruttosozialprodukts. Gilt nicht, sagt die Kommission. Das Haushaltsdefizit ist nur durch einmalige Maßnahmen unter drei Prozent gedrückt worden. Die Zeiten, in der wir faule Tricks toleriert haben, sind vorbei. Victor Orban hat einfach einen privat aufgebauten Rentenzweig verstaatlicht und die eingezahlten Gelder zum Defizitabbau genutzt. Das reale Staatsdefizit soll laut EU-Kommission bei sechs Prozent liegen.
Kommissar Ollie Rehn und der Kommission kommt der Fall Ungarn gerade recht. Orban hat nach seinen autokratischen Anfällen, die ihm ein Vertragsverletzungsverfahren eingebracht haben, das Ungarn das Stimmrecht kosten kann, wenig Freunde im Ministerrat. Der ungarische Ministerpräsident kann nicht darauf hoffen, dass seine Kollegen das Verdikt der Kommission mit Zweidrittelmehrheit zurückweisen. Die wäre notwendig, um die Strafmaßnahmen noch abzuwenden.
Das wird nicht geschehen. An Ungarn kann die Kommission zum ersten Mal ihre neuen wirtschaftspolitischen Krallen zeigen. Und die EU-Mitgliedstaaten werden mit Schrecken feststellen, dass sie etwas beschlossen haben, was ihnen im Anwendungsfall richtig wehtut. Zypern, Belgien, Malta und Polen werden das ungarische Beispiel genau beobachten. Sie sind ebenfalls von der Kommission zu weiteren Sparmaßnahmen aufgefordert worden. Im Gegensatz zu Ungarn haben sie aber sofort regiert. Wie schwer das im Einzelfall sein kann, haben die Ausfälle von Paul Magnette, belgischer Minister für öffentliche Unternehmen, gezeigt, der die Kommission im Dezember scharf angegriffen hatte und wissen wollte: „Wer ist und wer kennt Ollie Rehn?“ Nach der prompten Schelte seines Ministerpräsidenten dürfte ihm der Mann bekannt sein. Er ist der europäische Wächter über die nationale Wirtschaftspolitik, die nicht länger allein von den Nationalstaaten verantwortet wird.
Diesen neuen Realitäten müssen sich alle stellen, nicht nur die Griechen. Die Kommission hat durch die Euro-Schuldenkrise enorm an Einfluss gewonnen. Das ist ebenso gut wie unzureichend. Ihr fehlt auf europäischer Ebene das Gegengewicht. Wenn Haushaltsfragen Sache der Parlamente ist, wie es das deutsche Verfassungsgericht diese Woche im Hinblick auf die Griechenlandhilfen wieder einmal feststellen musste, dann muss das Europäische Parlament ebenfalls eine Rolle spielen. Dies ist im Lissabonvertrag nicht vorgesehen. Wenn eine europäische Wirtschaftsregierung demokratisch legitimiert sein soll, muss sich das ändern. Das Parlament sollte zumindest die gleichen Rechte in Wirtschaftsfragen erhalten wie der Ministerrat.