Auf einer Buchmesse unterhält sich eine junge Schriftststellerin mit einem Journalisten und ergattert seine E-Mail-Adresse. Es ist die Zeit, in der noch nicht alle Welt über einen E-Mail-Account und ein Mobiltelefon verfügt, die Zeit, in der man sich noch in ein Ladengeschäft begibt, um ein Buch zu erstehen, und an einen Bahnhofsschalter, um eine Fahrkarte zu kaufen. Die junge Schrift-stellerin und Ich-Erzählerin des Romans Et, le mail s’envole comme un oiseau muss erst eine elektronische Mailbox einrichten um mit ihrer neuen Bekanntschaft in Kontakt zu treten. Sie schreibt, er antwortet, sie schreibt wieder, und ehe sie sich's versieht, steckt sie mitten in einer elektronischen Korrespondenz, die ihr Zeitgefühl bestimmt und sie in eine emotionale Abhängigkeit zu einem Gegenüber zwingt, der sich unentbehrlich macht und sich doch ständig entzieht.
Dass die Antwort auf eine E-Mail, anders als bei Briefen, sich nicht um Postwege zu scheren braucht, sondern jederzeit eintreffen kann, macht das Warten zur Tortur. Manchmal antwortet er sofort, manchmal hört sie tage- und wochenlang nichts von ihm. Die Relation ist nahezu einseitig: Er stellt Fragen, kritisiert ihre Antworten, fragt nach. Von sich selbst gibt er nichts preis; auf ein persönliches Treffen lässt er sich nicht ein. Was motiviert ihn, den relativ erfolgreichen, gestressten Zeitungsmenschen aus Paris, zu diesem Austausch mit einer fremden Frau aus der Provinz, die ihn manchmal mit einer ganzen Flut von E-Mails terrorisiert, in denen es immer nur um sie selbst geht, in denen sie ihrem gekränkten Ego regelmäßig durch Beleidigungen Luft macht und behauptet, nichts mehr von ihm hören zu wollen, um sich dann doch wieder anzubiedern? Warum verweigert er sich einem Treffen? Welchen Platz nimmt diese virtuelle Beziehung in seinem Leben ein?
Natürlich kann man sich einiges an Gründen dafür ausdenken, warum jemand in einer virtuellen Beziehung sowohl unverfügbar als auch unverzichtbar erscheinen will. Auch kann man sich vorstellen, dass eine verheiratete Frau über Jahre hinweg einem E-Mail-Partner emotional völlig verfällt, ständig auf sein Urteil angewiesen ist und nichts erleben, fühlen oder denken kann, ohne ihm umfassend Bericht davon zu erstatten. Man weiß es freilich nicht genau. Die wahre Natur des Verhältnisses von Bildschirm zu Bildschirm, das sie in ihrem Roman beschreibt, lässt die Autorin im Dunkeln. Denn Anne Calife, mit bürgerlichem Namen Anne Colmerauer, folgt einer Poetik des Behauptens. Von den ewiglangen E-Mail-Tiraden, den Uneinigkeiten und Beleidigungen wie den anschließenden Versöhnungen, die sie ihren Figuren unterstellt, erfährt der Leser höchstens andeutungsweise, in Auszügen und Umschreibungen.
Anne Calife kultiviert – durchaus nicht talentfrei – die Paraphrase; sie zeigt nicht, sondern umschreibt: „Son message contenait une remarque sur le roman, appuyant là, où ça faisait mal, pointant son défaut principal. C’était trop. Trop précis, trop exact ; trop de moi-même et de ma propre négation.“ – dieser Ausschnitt bleibt eine Aneinanderreihung von Leerstellen, eine Art Regieanweisung ohne dazugehöriges Stück. Der Leser erfährt weder Näheres zu diesem Roman, den die Erzählerin geschrieben haben will, noch zur Kritik. Zwar wird man womöglich Verständnis dafür aufbringen, dass die Figur sich durch eine Bemerkung verletzt fühlt, die ihr Innerstes berührt, aber mehr als glauben kann man es nicht. Dass der Bogen der Erzählung an diesem Stil nicht völlig zerbricht, ist sicher ein Hinweis auf das Können der Autorin. Abgesehen von einigen Tiefe suggerierenden Sentenzen, die sie vom Rest des Textes absetzt, wie um ihnen ein Gewicht zu verleihen, das sie von sich aus nicht aufbringen, bleibt die Sprache von Anne Calife klar, der Duktus der Erzählung zügig und die Entwicklung der Handlung glaubwürdig – sofern man gewillt ist, sich auf das Ethos der Assertion einzulassen.
Anne Calife erfüllt mehrere Voraussetzungen, um den Briefroman im virtuellen Raum des Internet durchspielen zu können. Der Hinweis auf die unterschiedliche Zeitlichkeit und die fehlenden haptischen Qualitäten der E-Mail, die sie zu etwas weit Vergänglicherem machen als ein Brief, sind sicher ein guter Ausgangspunkt für die Adaptation der traditionellen Romanform. Gleiches gilt für die Entscheidung, die Beziehung der Figuren rein virtuell zu gestalten, sie auf das Abrufen ihrer Emails einzuschränken und die E-Mail-Schreiber nicht noch auf anderen Ebenen zueinander zu führen. Dass dabei der Inhalt der E-Mails selbst virtuell wird, erscheint jedoch bedenklich.
Anne Calife: Et, le mail s’envole comme un oiseau; Roman; The Menthol House publishing, Bettembourg, 2008. ISBN 978-2-9599680-0-6.