Anlässlich von 100 Jahren Surrealismus zeigt das Museum „La Boverie“ in Lüttich mit Les Mondes de Paul Delvaux eine umfangreiche Retrospektive

Wandelnder zwischen Eros und Thanatos

d'Lëtzebuerger Land du 29.11.2024

Er gilt als der Maler der Frauen und Bahnhöfe. Dabei hat der Belgier Paul Delvaux (1897-1994) ein breit gefächertes Werk hinterlassen, das nicht nur von einer unglaublichen Produktivität zeugt, sondern auch zeigt, wie er sich im Verlauf der Jahrzehnte von seinen Zeitgenossen inspirieren ließ und zwischen verschiedenen Motiven und Kunst-Stilen wechselte.

Die Ausstellung in Lüttich, die mehr als 150 Werke und Objekte umfasst, ist die umfassendste Schau zu Delvaux seit 1997 (in den Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique). Doch zunächst stößt man auf einen Siebdruck von Andy Warhol und wähnt sich irgendwie im falschen Film. Warhol soll von Delvaux’ Werk beeindruckt gewesen sein, hat ihn später getroffen und porträtiert.

Nach einem kurzen Aufenthalt an der Akademie der Schönen Künste in Brüssel setzte Delvaux seine Ausbildung als Autodidakt fort. Zunächst ohne Atelier, fand er im Freien in vertrauter Umgebung den Ort für seine Kompositionen. Er reiste durch seine Heimatregion, hielt an den Ufern der Maas, um deren Charme einzufangen.

Rasch stößt man in der Schau auf das Ölgemälde eines Bahnhofs. Mit La Gare du quartier Léopold (1922) dokumentiert Delvaux das Wirken der Eisenbahn- und Stahlarbeiter. Die zarten Grüntöne weichen den bräunlichen Tönen der Rauchschwaden von Dampflokomotiven. Delvaux bemühte sich, die oft nächtliche Aktivität der Eisenbahner am Bahnhof Brüssel-Luxembourg wiederzugeben.

Die Ausstellung im „La Boverie“ setzt Gemälde von Delvaux mit denen seiner Zeitgenossen in Kontrast. Doch mag die Gegenüberstellung mit René Magritte aufgrund der Verbindungen zum Surrealismus noch naheliegen, liegt dies bei anderen Künstlern nicht auf der Hand. Wenig bekannt ist etwa, dass Delvaux fasziniert war vom Werk Amedeo Modiglianis, dessen Arbeiten ihn inspirieren sollten. Denn erst Modigliani, erfährt man in der Ausstellung, habe Delvaux dazu gebracht, sich voll und ganz auf Nacktheit einzulassen.

Die Jahre 1934 und 1935 markieren einen wichtigen Umschwung. Delvaux’ Darstellung der Frauen entwickelt sich weiter und wird zum Hauptthema einiger Bilder, in denen Frauen den Raum in nüchternem Dekor vollständig einnehmen.

Die Entdeckung der Werke von Magritte und De Chirico in der Ausstellung Minotaure, 1934 im Palais des Beaux-Arts, führt zu einem tiefgreifenden Wandel in der Einstellung des Künstlers. Fortan stützt er sich auf die unerwartete Kombination von Elementen, um sein Bild zu komponieren, schöpft aus seinen Erinnerungen und hebt auf eine Reihe ikonografischer Elemente ab (Architektur, Mobiliar, Drapierungen), die später immer wiederkehren sollen.

Die Erzählung Nadja von André Breton, 1928 erschienen, gehört zu den Standardwerken des Surrealismus. Breton, der Begründer der Bewegung, schloss sie programmatisch mit einer berühmt gewordenen Definition der Schönheit: „Die Schönheit wird KONVULSIV sein oder sie wird nicht sein.“ Auf Delvaux wirkt die Begegnung mit dem Surrealismus wie ein auslösendes Element. Unter Missachtung jeglicher Logik erschafft der Künstler eine persönliche Welt, in der das Geheimnis der Szene, die sich vor unseren Augen abspielt, nicht gelüftet wird, obwohl jedes einzelne Element perfekt identifizierbar ist.

Einige seiner Werke sollen für Wirbel sorgen. Etwa sein Gemälde La Visite (1939), das 1962 anlässlich einer Ausstellung von Delvaux in Ostende polemisch diskutiert wird und einen Skandal auslöst: In einem unmöblierten Raum mit einer Decke, die mit Engeln und einem Kronleuchter geschmückt ist, sitzt eine nackte Frau auf einem einfachen Hocker. Sie hält ihre Brüste sanft in ihren Händen, während ein nackter Junge den Raum betritt. Wegen des „Verstoßes gegen die guten Sitten“ wurde das Gemälde damals abgehängt, bevor es mit dem Verweis: „Für Personen unter 21 Jahren verboten“ wieder aufgehängt wurde.

Für Aufsehen sorgt auch die Darstellung einer Leichenbestattung La Mise au tombeau (1954): 1954 wurde eine sehr ähnliche, frühere Ver-
sion von 1951 im belgischen Pavillon auf der 27. Biennale in Venedig gezeigt. Es kam zu einem Skandal und der Kardinal plädierte dafür, die Ausstellung angesichts einer solchen Beleidigung zu verbieten. Denn Delvaux greift darin die Ikonographie der Passionsszenen auf: Jesus Christus liegt auf einem weißen Leichentuch, während die mit einem blauen Tuch bedeckte Jungfrau Maria um ihn trauert. Doch sind die Figuren als Skelette dargestellt.

Die Darstellung der nackten Frau zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk von Paul Delvaux. Obwohl er Frauen oft nackt darstellt, flößen sie dem Künstler tiefen Respekt ein. Er idealisiert sie, so wie seine langjährige Lebensgefährtin Anne-Marie De Martelaere, „Tam“, die er 1952 heiratet. Für Delvaux ist die Frau die inspirierende Muse, die sich ihm in zahlreichen Facetten offenbart: mal melancholisch, romantisch, fatal und bisweilen aufreizend und schamlos. In der Schau in Lüttich ist das Kapitel „Eros“ mit bordeauxroten Wänden unterlegt, während die Darstellungen des Todes vor Dunkelblau umso stärker wirken.

Aber auch der Tod zieht sich in Form von Skeletten und Totenköpfen durch sein Werk – und dies nicht erst seit der Begegnung mit James Ensor. Als Delvaux sieben Jahre alt war, beeindruckte ihn ein Skelett, das im Biologiesaal thronte. Während des Zweiten Weltkriegs widmete er sich den sogenannten Skelettzeichnungen im Museum für Naturwissenschaften in Brüssel. Für ihn ist die Architektur des Skeletts das Wesen des Lebens. Daher belebt er es als ein Wesen aus Fleisch. Im Gegensatz zu seinen Figuren verleiht er ihm einen emotionalen Ausdruck. „Indem er den Menschen seines Fleisches beraubt, führt Delvaux ihn zu seiner universellen Bedeutung zurück“, liest man in der Ausstellung. Im Angesicht des Todes seien „Wir alle gleich“.

Als männlicher Verehrer der weiblichen Schönheit kam Delvaux nicht an dem Thema der schlaftrunkenen Venus vorbei. Sie geht auf eine prägnante Erinnerung zurück: die Entdeckung der schlafenden Venus, einer Wachsfigur in der Baracke des Spitzner-Museums auf dem Brüsseler Jahrmarkt „Foire du Midi“. Dieser seltsame Ort war eine Art anatomisches Museum, das die Besonderheiten des Körpers zeigte – ohne dessen Anomalien auszulassen. Nur eine Puppe, die in einem Glassarg lag, schien normal. Durch ein ausgeklügeltes mechanisches System wirkte es so, als ob sie atmete und ihre Brust anhob. Ab 1932 nahm die Venus einen festen Platz in Delvaux’ Werk ein. Auch in der Schau in Lüttich begegnet man so einer lebensgroßen Puppe in einem Glaskasten.

In der Mitte des Rundgangs bietet ein erweiterter Zeitstrahl eine Perspektive zwischen dem Werk und dem Leben von Paul Delvaux. Hier stößt man etwa auch auf ein nettes Video aus dem Album Melody von Serge Gainsbourg und Jane Birkin (von 1971). Darin spaziert das Paar vor einem Dekor eines Tableaus von Delvaux.

Neben Zügen und Frauen bevölkern auch andere wiederkehrende Figuren sein Universum, darunter die Wissenschaftler, die Delvaux während seiner Jugend in den Romanen von Jules Verne entdeckte. Aus Vernes Abenteuern behielt er den Geologen Otto Lidenbrock aus Die Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864) und den Physiker Professor Palmyrin Rosette aus Hector Servadac (1877) in Erinnerung. Sie finden sich verewigt in dem Gemälde Hommage à Jules Verne (1971).

Am Ende des Ausstellungsrundgangs dominieren wieder Straßenbahnen, Züge und Bahnhöfe. Obwohl diese Symbole Modernität versprechen, blieben sie für Paul Delvaux ein Versprechen auf Flucht.

Die weitläufige Schau ist gut gestaltet; sie erlaubt es den Besucher/innen – durch die multimedialen Komponenten (wie sein nachgebautes Atelier) für die ganze Familie – in die zauberhafte Welt des Surrealisten einzutauchen. Aufwühlend wie der von Breton propagierte Surrealismus ist die Schau im „La Boverie“ in Lüttich freilich nicht. Die Wiederholung der immergleichen Motive, des überpräsenten nackten weiblichen Körpers und der zahlreichen Skelette, Schienen und Bahnhöfe wirkt etwas repetitiv – und zuweilen auf den Effekt bedacht. Klar wird: Verglichen mit Zeitgenossen wie Claude Cahun war Paul Delvaux kein politischer Künstler. Dem weiblichen Körper galt sein Interesse. Idealisiert, stets schlank und mit prallen Brüsten erweist er sich in der Ausstellung geradezu als Fetisch. So bleibt das große Beben in „La Boverie“ aus.

Die Ausstellung Les Mondes de Paul Delvaux ist noch bis zum 16. März im Museum „La Boverie“ in Lüttich zu sehen. Weitere Informationen unter: laboverie.com

Anina Valle Thiele
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