Mit zwanzig Jahren bereits den zweiten Roman veröffentlicht zu haben, ist eine beachtliche Leistung. Sie verlangt nicht nur den Einsatz von viel Zeit und die Bereitschaft zum eigenständigen Arbeiten, sondern auch Durchhaltevermögen und Disziplin.Nach ihrem Erstlingswerk Wolfsblut, erzählt Jasmine Braun (geb. 1988) in Zerrissen die Geschichte der siebzehnjährigen Sidney Trainor aus New Orleans, die bei einem Autounfall ihre Mutter verliert und anschließend alles daran setzt, nicht bei ihrem gewalttätigen Vater leben zu müssen. Auf fast dreihundert Seiten beschreibt die junge Autorin, wie ihre Protagonistin auf der Flucht neue Freunde gewinnt, eine falsche Identität annimmt und sich unsterblich in einen jungen Assistenzarzt verliebt.
Jasmine Braun schreibt ihren Roman in idiomatisch wie grammatisch nahezu einwandfreiem Deutsch – das ist mehr als das, was selbst einige ihrer gesetzteren Schriftstellerkollegen von sich behaupten können und ohnehin mehr als das, was ein Großteil der luxemburgischen Abiturienten vermag. Die Frage, die sich bei der Würdigung eines Buches stellt, lautet jedoch nicht, in welchem Verhältnis die literarische Qualität zum Alter des Verfassers steht, sondern, ob es sich um ein gutes Buch handelt.
Zunächst hat Jasmine Braun scheinbar alles richtig gemacht: Der Ablauf der Handlung folgt konsequent einem Spannungsbogen, die Figuren sind mit Vorgeschichten ausgestattet, vor deren Hintergrund Motivationen und Reaktionen verständlich werden, beschreibende Passagen wechseln sich mit Dialogpartien ab. Überdies bemüht sich die Autorin merklich darum, Pauschalprädikate (sagen-machen-gehen) weitgehend zu vermeiden. Das Problem ist, dass derartige Anstrengungen zwar eine Eins im Schulaufsatz garantieren, für die Arbeit an einem Roman jedoch nicht ausreichen. Die Beherrschung der Sprache und elementare kompositorische Kenntnisse sind zwar eine Grundvoraussetzung für schriftstellerische Tätigkeiten, sie sind jedoch nicht gleichbedeutend mit gutem Stil.
Auch auf rein inhaltlicher Ebene krankt der Roman an dem Problem, dass der Leser andere Erwartungen an ihn haben wird als an einen überlangen Schulaufsatz und sich daher kaum mit der Flüssigkeit der Erzählung zufriedengeben wird, wo die Handlung unplausible Wendungen annimmt. Ein für sich genommen nicht unbedingt entscheidender, aber doch vermeidbarer Schnitzer besteht beispielsweise darin, den Roman in einer Stadt spielen zu lassen, die zwar New Orleans heißt, jedoch nicht New Orleans ist. Insbesondere das Hafenviertel, in das es Sidney verschlägt, vermittelt, trotz gegenteiliger Behauptungen der Figuren, nicht den Eindruck, besonders gefährlich oder besonders ärmlich zu sein. Wiederholt heißt es, Sidney lebe nun „auf der Straße“; dabei bewohnt sie ein eigenes Zimmer in einem Einfamilienhaus, wird mit Kleidung ausgestattet, bekocht und umsorgt. Darüber hinaus kann man sich kaum vorstellen, was der Hügel, über den sich Sidney aus ihrem neuen Zuhause stiehlt, in der Topographie von New Orleans verloren hat; die Flutkatastrophe scheint außerdem noch nicht (oder nie) stattgefunden zu haben. Eine beliebige andere Stadt mit Hafen hätte es in erzählerischer Hinsicht auch getan.
Insgesamt hält der Roman einem Abgleich mit der Realität in vielen Hinsichten nicht stand. Dass ein Großaufgebot der Polizei mehrere Tage lang intensiv nach einem jugendlichen Ausreißer sucht, gehört dabei wohl ebenso sehr ins Reich der Phantasie, wie die Vorstellung, Sidney könne einen Brief, der im Buch eine halbe Druckseite einnimmt, auf ein Papiertaschentuch schreiben.
Als gewichtigster Makel des Buches stechen jedoch die zum Teil höchst unglaubwürdigen psychologischen Dispositionen der Figuren hervor. So verschwendet Sidney bereits zwei Tage nach dem Autounfall kaum mehr einen Gedanken an ihre Mutter. Das scheint daran zu liegen, dass die Autorin nicht die Geschichte eines Mädchens erzählen will, das seine Mutter verloren hat und sich nun allein zurechtfinden muss, sondern die eines Mädchens, das sich zum ersten Mal in seinem Leben bis über beide Ohren verliebt. Der Autounfall ist lediglich der erzählerische Vorwand, unter dem sich Sidney und der junge Arzt zum ersten Mal begegnen können. Statt psychologischer Tiefe optiert die Autorin für tragisches Flair. Sie verflacht dadurch nicht nur den Charakter der Hauptfigur, sondern auch den Verlauf der Handlung. Spätestens im letzten Drittel des Buches geht es dann nur noch um die Liebe. Leider mündet die Geschichte nach unterschiedlichen Irrungen und Wirrungen in ein unsäglich kitschiges Happy End (Liebesschwüre am Krankenbett nach geglückter Lebensrettung). Auch wenn sich mit Sicherheit dankbare Abnehmer für ein solches Finale finden werden, ist es aus literarischer Sicht kaum vertretbar.
Jasmine Braun hat unbestreitbare Leichtigkeiten im Geschichtenerzählen. Ihre spürbare Anteilnahme am Schicksal ihrer Figuren wiegt ihren Mangel an Weltwissen jedoch genauso wenig auf, wie ihre grammatische Sicherheit über das Fehlen von sprachlicher Individualität, von eigenem Stil, hinwegtäuschen kann. Der Autorin wäre zu wünschen, dass sie an ihrem Talent festhält, es jedoch nicht mit einem weiteren kitschigen Jugendbuch in altbackener Prosa vergeudet. Dazu gibt es nur ein Mittel: Man muss schrecklich viel lesen.
Jasmine Braun: Zerrissen; Op der Lay 2008. ISBN 978-2-87967-157-4.