Wenn ein Problem alle Einwohner eines Dorfes betrifft, bedeutet das gewöhnlich nicht, dass sich alle gleichermaßen davon betroffen fühlen und gewillt sind, etwas gegen dieses Problem zu unternehmen. Sogar wo richtig und falsch ganz eindeutig voneinander zu unterscheiden sind, werden Einzelne, die sich für das offensichtlich Richtige einsetzen, nicht selten von einer trägen oder gleichgültigen oder von niederen Interessen geleiteten Allgemeinheit verlacht. In Sachen Naturschutz gibt dieses Muster – nicht nur, aber natürlich auch in Luxemburg – beinahe die Regel ab. Ein Schriftsteller, der seine Erzählung im Umkreis der Umweltproblematik ansiedelt, verfügt damit von Anfang an über eine klassische erzählerische Konfliktsituation, nämlich den einsamen Helden, der gegen alle Wahrscheinlichkeit und unter größten Widrigkeiten die Gerechtigkeit seines Anliegens verteidigt. Man nehme also ein fiktives, aber durchaus typisches kleines Dorf, das im Norden Luxemburgs liegen könnte: „Eng Strooss féiert ran, mä keng méi raus, et muss ee ronderëm d’Schoul, d’Gemeng an d’Kierch d’Kéier maachen, ëmdréien.“ –; das Dorf befände sich also an einer Extremität, die man der Welt sprichwörtlich zuschreiben zu können meint. In der unmittelbaren Nähe dieses Dorfes läge ein großes Hochmoor, das eine Unzahl von seltenen Pflanzen- und Vogelarten beherbergte, für Menschen jedoch weitgehend unzugänglich wäre. Man stelle sich außerdem vor, in der Mitte dieses Moores wäre ein zu Fuß nicht erreichbares Plateau aus flachem Stein, das Vögel als Lagerstätte nutzten. Auf just diesem Plateau beabsichtigte nun eine – selbstredend fiktive – luxemburgische Regierung ein Hochsicherheitsgefängnis zu bauen, was zwar mit unüberschaubaren logistischen Problemen und einer beispiellosen Umweltzerstörung einherginge, dafür aber einen Unternehmer aus dem Dorf, dem zufällig die passende Parteikarte in der Tasche steckte, auf einen überaus rentablen Bauauftrag hoffen ließe. Für wie realistisch er dieses Szenario hält, bleibt natürlich jedem Leser selbst überlassen.
Die Chancen für Anne Schaller, eine Grundschullehrerin aus dem Ort, in dem Josy Braun seine Novelle D’Wëldanger Muer spielen lässt, stehen die Chancen jedenfalls denkbar schlecht. Anne ist Grundschullehrerin in Wëldang; sie ist geschieden und wohnt bei ihrem kränkelnden Vater. Sie schreibt fleißig Leserbriefe, um die Öffentlichkeit auf die bevorstehende Umweltzerstörung aufmerksam zu machen und gründet sogar eine Vereinigung zu diesem Zweck. In einer Bürgerversammlung, bei der die zuständigen Minister die Bevölkerung auf ihr Vorhaben einstimmen wollen, findet sie den Mut, aufzustehen und die Verantwortlichen zur Rede zu stellen. Dass sie mit diesem ersten wichtigen Schritt zur Rettung des Moores desaströse Folgen für sich selbst in Kauf nimmt, weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
D’Wëldanger Muer ist, wie man vom Autor gewohnt ist, geradlinige, sorgfältig komponierte Unterhaltungsliteratur auf Luxemburgisch. Bei allen erwartbaren Zutaten der Erzählung – die Moorleichen dürfen genauso wenig fehlen wie der pädagogisierende Hinweis auf die allgemeine Vernachlässigung von unser aller „Mammesprooch“ – wirkt der Grundton doch ungewohnt pessimistisch. Die Novelle liest sich wie ein verbittertes Plädoyer für die Zivilcourage; sie zeichnet ein düsteres Bild der Möglichkeiten des Einzelnen, auf einigermaßen friedliche Weise erfolgreich für seine Überzeugungen einzustehen. Vor allem in der Beschreibung der Hindernisse und Anfeindungen, die Anne Schaller bewältigen muss, läuft Josy Braun zur Hochform auf: Die tumbe Stammtischmentalität, die sich in den Wortmeldungen der Dorfbewohner bei der Bürgerversammlung äußert und eine satirisch versierte Darstellung der politischen Verantwortlichen und ihres abstrusen Planes machen die besten Partien des Buches aus und entschädigen größtenteils für das vielleicht etwas übertrieben gewaltsame und in seiner Detailfreudigkeit reichlich unappetitliche Finale.
Eine kleine Anmerkung zur Gestaltung des Buches sei einem unbedarften Muttersprachler am Ende erlaubt: Die Pflege der Sprache liegt Josy Braun ganz offensichtlich am Herzen. Doch während er sich darum bemüht, dem Leser die Reichhaltigkeit des luxemburgischen Wortschatzes vor Augen zu führen, vergisst er möglicherweise, dass sein Zielpublikum nicht nur aus ausgereiften Luxemburgisten besteht. Viele – man möchte meinen: die meisten – Luxemburger können mit Bezeichnungen wie „Krukert“, „Moukepräbbeli“ oder „Waasserjëffercher“ nicht viel bis gar nichts anfangen. Ein Autor, der seine Bücher im Selbstverlag veröffentlicht, hätte die Option, die entsprechenden Worterklärungen mitzuliefern.
Josy Braun: D’Wëldanger Muer. Novell; Éditions Josy Braun 2009.