Während der vergangenen Parlamentssession 2006/2007 behandeltedie Abgeordnetenkammer in geheimen Sitzungen fast 400 Naturalisierungsanträge. Das stellt beinahe eine Verdoppelung gegenüber den Sessionen zuvor dar, als die Zahl derNaturalisierungsanträge zwischen 200 und 250 pro Session lag. Dabeihatte die Regierung gerade zu Beginn der Session 2006 eine deutlicheVereinfachung der Einbürgerungsprozedur angekündigt, die allerdingsbis heute nicht in Kraft ist.
Aber die geplante Reform stellt weit mehr als eine Vereinfachung derProzedur und eine Verkürzung des Amtswegs dar. Sie verändert das Prinzip selbst der Naturalisierung grundlegend und berührt damit das Wesen der Staatsbürgerschaft, die bis heute eine der wichtigsten Grundlagen der Demokratie darstellt. Denn die Staatsbürgerschaft ist die Voraussetzung zur Ausübung der wichtigsten politischen Rechte, angefangen beim aktiven und passiven Wahlrecht.
Weil die Möglichkeit der Naturalisierung, der Zuerkennung der Staatsbürgerschaft, durch die Verfassung geschaffen wird, verlangt eine Reform der Naturalisierung eine Verfassungsänderung. Diese Woche befasste sich der parlamentarische Ausschuss der Institutionen und Verfassungsrevision mit der Revision von Verfassungsartikel 10, der die Naturalisierung regelt und ersatzlos gestrichen werden soll.
Im Gegensatz zu einem Recht, die Luxemburger Staatsbürgerschaft zuerlangen oder zu wählen, das aus der Abstammung oder dem Geburtsortentstehen kann und aus Artikel neun der Verfassung abgeleitet wird, ist die derzeitige Praxis der Naturalisierung eher eine Gnade als ein Recht. Ihre Grundlage in Artikel 10 der Verfassung geht unverändert auf die Verfassung von 1848 zurück, die in Artikel 11 nach belgischem Vorbild besagte: „La naturalisation est accordée par le pouvoir législatif.“ Im Laufe der Zeit wurde lediglich der zweideutige Zusatz „Elle seule assimile l’étranger aux Luxembourgeois, pour l’exercice des droits politiques“ durch den Satz „La loi détermine les effets de la naturalisation“ ersetzt.
Luxemburg ist das letzte Land der EuropäischenUnion, wodie obersteGewalt im Staat, der Gesetzgeber als direkter Vertreter des Volkssouveräns, über jeden einzelnen Naturalisierungsantrageiner Bürgerin oder eines Bürgers entscheidet und jeweils durch ein eigenes, im Memorial veröffentlichtes Gesetz Herrn Adrovic aus Esch-Alzette, Herr Azmi aus Wasserbillig und Frau Chezn ausBerdorf zu Luxemburgern macht. Diese sehr selekte Club-Satzung Mitgliedschaft wirkt heute, als ob der Staat seine Staatsbürgerschaft fürein Privileg hielte, das mit Zähnen und Klauen gegen eine fremde Bedrohung verteidigt werden müsste. Zudem gibt es keine Berufungsinstanz gegen eine Entscheidung des Parlaments, das über das Maß an Integration der Antragsteller befinden kann. Der Eindruck, die Staatsbürgerschaft werde in einem Akt der Gnade verliehen, wird dadurch verstärkt, dass Ausländer, die sich um die Nation verdient gemacht haben, quasi als Belohnung eingebürgert werden, selbst wenn sie nicht alle Alters- und Aufenthaltsbedingungen dazu erfüllen. Wobei das Parlament dann mit seinen Lex Girardelli und anderen zwangsläufig gegen das Prinzip der Allgemeingültigkeit von Gesetzen verstößt.
Durch die kurz vor Weihnachten vom Staatsrat gutgeheißene Abschaffung von Verfassungsartikel 10 soll die Naturalisierung gar nicht mehr in der Verfassung erwähnt werden, also automatisch unter Artikel 9 fallen, der besagt, dass der Erwerb, der Erhalt und der Verlust der Staatsbürgerschaft im Allgemeinen durch Gesetz geregelt werden. Die geplante Reform der Staatsbürgerschaft, die auch die doppelte Staatsbürgerschaft vorsehen soll, sieht vor, dass die Naturalisierungnicht mehr durch ein geheimes Votum des Parlaments, sondern durch einen Erlass des Justizministers erfolgen soll, der vor dem Verwaltungsgericht angefochten werden kann. Die derzeitigenOptionsmöglichkeiten sollen abgeschafft und wie Naturalisierungenbehandelt werden.
Damit würde aus dem ziemlich willkürlichen und unkontrollierbarenAkt des Parlaments in einer Art kleiner kopernikanischer Wende einRecht der Antragsteller auf Staatsbürgerschaft, sofern sie die gesetzlichen Bedingungen erfüllen. Wer 18 Jahre alt ist und seit sieben Jahren legal in Luxemburg wohnt, soll nicht mehr von Polizei, Gemeinderat, Staatsrat und Parlament darauf hin überprüft werden, ob er würdig ist, die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Vielmehr soll, wer hier lebt, ein Recht bekommen, Staatsbürger zu werden.
Auch wenn die derzeitige Debatte vor allem um die Frage dreht, wiepräzise beziehungsweise willkürlich die für diesen Anspruch von denKandidaten verlangten Sprach- und bürgerkundlichen Kenntnisse definiert werden sollen. So als seien Letztere die von der CSV auf Druck ihrer rechten Konkurrenz eingebaute Notbremse, um doch noch das kosmopolitisch klingende Recht auf Staatsbürgerschaft durch einen Schuss patriotische Willkür einzuschränken.