Außerhalb der Mittagszeit spielt sich die Geschäftigkeit am Boulevard Kennedy üblicherweise hinter den modernen Beton- und Glasfassaden ab. Bei der Planung des Kirchbergs wurde auffallend wenig Wert auf eine Nutzungsmischung gelegt. Auf den Fotografien Yvon Lamberts, die noch bis Samstag im Luxembourg Centre for Architecture (Luca) in der Ausstellung Kirchberg gezeigt werden, stehen die Menschen als Motive im Vordergrund, obgleich sie sich in der architektonischen Kulisse des Kirchbergs oft zu verlieren scheinen.
Die Bilder sind Auftragsarbeiten, die im Rahmen der 2006 ins Leben gerufenen Mission photographique des Fonds Kirchberg entstanden sind. Alle zwei Jahre werden Fotografen damit beauftragt, ihren persönlichen Blick auf das sich stetig verändernde Bild des Kirchberg zu präsentieren. Dieses Jahr wurden Yvon Lambert und Romain Girtgen, dessen Ausstellung als nächstes folgen wird, mit der dritten Mission beauftragt.
Was im Ausstellungsraum des Luca direkt auffällt, ist die Unterteilung der Fotografien in farbige und schwarzweiße Aufnahmen, die sowohl in der zweibändigen Publikation (erhältlich im Luca) wie auch in der Ausstellung strikt getrennt sind. Bei seiner Dokumentation des Kirchberg hat Lambert zwei unterschiedliche Kameras, eine mit Farb-, eine mit Schwarzweißfilm benutzt. Die quadratischen Schwarzweißaufnahmen wirken distanzierter, da sie das Augenmerk auf die Komposition legen und die Architektur des Kirchberg raumgreifend erfassen während sich die Menschen darin wie gut verteilte Bildelemente ausmachen. Die Farbbilder im Hoch- oder Querformat scheinen hingegen näher, wenn etwa Fußgänger über den Zebrastreifen direkt auf die Kamera zulaufen und ins Objektiv blicken, oder wenn die Beine eines vorbeigehenden Anzugträgers gigantisch wirken gegenüber Fassade und Passanten im Hintergrund.
Zwei Aufnahmen am KPMG-Gebäude machen eine Ausnahme: Die großformatige Nahaufnahme einer jungen Frau mit blumiger Hippie-Sonnenbrille vor der wabenartigen Fassade des Gebäudes wirkt trotz ihrer Farblosigkeit „bunt“ und lebhaft. Im Vergleich dazu wirkt ein Farbfoto des dünn besetzten Vorplatzes, über den sich der warme Schimmer der bronzefarbenen Fassade legt, weitaus distanzierter und statischer.
Doch sind die Menschen in Yvon Lamberts Aufnahmen keineswegs nur Statisten. Größtenteils sind sie in Zwischenmomenten gezeigt. Sei es die kurze Zigarettenpause, das Warten auf den Bus, der Fußweg zur Arbeit oder das mäßig interessierte Bedienendes Smartphones – außerhalb ihrer Arbeit sind die Leute auf dem Kirchberg nur in Übergangsphasen anzutreffen und erwecken selbst in den Augenblicken des Innehaltens einen rastlosen Eindruck. Kompositorisch wirken sie wie „lost in space“, wie Schauspieler, die geschickt auf eine gewaltige Bühne zeitgenössischer Architektur platziert wurden. Lambert bleibt dabei seinem dokumentarischen Stil treu. Statt spektakulärer Architekturperspektiven bietet er angenehm unaufgeregte Ausschnitte der jeweiligen Orte, die stets identifizierbar bleiben. So ist das Glasdach des Atriums der Europäischen Investitionsbank als markantes Element auf Innen- und Außenaufnahmen des Gebäudes zu erkennen. Auf einer der Aufnahmen geht ein Angestellter die Treppe hinauf, fast wie eine Miniatur vor den Schatten der gigantischen Struktur über ihm.
Die Bilder zeugen von einer klassisch-straßenfotografischen Herangehensweise. In seinem lesenswerten Vorwort erklärt Rolf Sachsse, wie der Fotograf geduldig auf passende Konstellationen wartete, um diese dann schnell und präzise einzufangen. Zwei zusammenhängende Bilder eines telefonierenden Passanten verdeutlichen dies: Ist das erste durch die bedruckte Glasscheibe einer Bushaltestelle fotografiert, zeigt das zweite den Mann aus einem anderen Winkel und auf einem anderen Punkt entlang seiner rastlosen Kreisbahn. Häufig arbeitet Lambert dabei mit Spiegelungen und Reflexionen, mit Mitteln also, die sich an freundlichen, sonnigen Tagen reichhaltig vor den gläsernen Fassaden bieten. So zeichnen sich etwa die Fenster des Schuman-Gebäudes als helle Muster auf den dunklen Steinplatten ab.
Es ist bemerkenswert, auf welch zeitlose und charaktervolle Art Yvon Lambert die Szenerien des Kirchbergs einfängt, gerade weil es sich bei dem Viertel mit dessen großstädtisch-ubiquitärer Architektur letztlich um eine Ansammlung austauschbarer Nicht-Orte handelt, die Leute zu Stoßzeiten passieren, stets auf dem Sprung und nie mit der Absicht, zu verweilen. Lamberts Fotografien laden in ihrer reflexiven Darstellung dazu ein, sich Zeit zu nehmen, um in diese Szenen einzutauchen und sie auf sich wirken zu lassen. In aller Ruhe.