„Was das Leben aus uns macht, dafür kann keiner.“ Mary Tyrone
Gut sind sie gelaunt, allesamt, an jenem Augustmorgen 1912. Vater James hält stolz seine noch immer hübsche Ehefrau Mary im Arm, daneben die Söhne Jamie und Edmund. „Mary ist 54, etwa mittelgroß. Ihre Figur ist noch immer jugendlich“, schreibt Eugene O’Neill in seinen ausführlichen Regieanweisungen, hier von Hausmädchen Cathleen mit starkem englischen Akzent vorgetragen. „Das Auffälligste an Mary ist ihre hochgradige Nervosität. Ihre Hände sind ständig in Bewegung.“ Der Vater, James Tyrone, ist „65, wirkt aber zehn Jahre jünger“. Er ist das Gegenteil seiner Frau, „etwas wie Nerven kennt er nicht. In seine sture, derbe Bäuerlichkeit mischen sich Anflüge sentimentaler Schwermut und seltene Augenblicke intuitiven Feingefühls.“ Zu dritt haben sie die Mutter gestern aus ihrer Entziehungskur abgeholt – seit Edmunds Geburt ist sie morphiumsüchtig. Alle hoffen, dass Mary es diesmal schafft, clean zu bleiben. Da der Vater und der älteste Sohn Jamie, beide Schauspieler, Theaterferien haben, wollen sie zusammen einen schönen Sommertag in ihrem Landhaus in New London (Connecticut) verbringen. Aber sehr schnell schon bröckelt der schöne Schein. Der Tag endet gegen Mitternacht in einer Tragödie.
Eugene O’Neill (1888-1953) schrieb das autobiografische Familiendrama Eines langen Tages Reise in die Nacht im Juli 1941 „mit Blut und Tränen“, wie er es in der Widmung an seine Ehefrau Carlotta formuliert; ein Stück, das ihm ermöglichte, sich endlich mit „[s]einen Toten auseinanderzusetzen“, und zwar „mit großem Mitgefühl und Verständnis und auch tiefer Vergebung für alle vier gepeinigten Tyrones“. O’Neill setzt sich in seinem Stück mit der Hölle seiner Kindheit („I had no childhood“) auseinander, aufgewachsen zwischen einem selbstsüchtigen Vater, der als mittelmäßiger Schauspieler seine Familie während langer Tourneen durch miefige Hotels quer durch die USA schleppte, und einer vom frühzeitigen Tod ihres Alkoholiker-Vaters und ihres zweiten Sohnes gezeichneten Mutter. Der Vater war genauso krankhaft geizig wie die Mutter fromm – bevor sie den Glauben verlor. Der ältere Sohn Jamie ist Schauspieler wie sein Vater, der ihn jedoch für talentlos hält; er fühlt sich schuldig am Tod seines jüngeren Bruders Eugene, den er mit Masern infizierte, weshalb er sich nun in zweifelhaften Bars am Broadway das Hirn wegsäuft. Edmund, der jüngere Bruder, schwächelt und hustet – seine Krankheit wird im Laufe des Tages benannt werden. Das Nebelhorn, das die Mutter im Schlaf hörte, lässt nichts Gutes erahnen.
Es ist kein Zufall, dass der belgische Regisseur Luk Perceval nach seiner Zola-Trilogie am Hamburger Thalia (das letzte Saison als ganztägiges Marathon im Grand Théâtre zu sehen war) sich jetzt Eugene O’Neill widmet, dem amerikanischen Nobel- und vierfachen Pulitzer-Preisträger, der leidenschaftlich versuchte, Strindbergs Realismus ins amerikanische Theater zu übertragen. Perceval, der heute als freier Regisseur arbeitet, tut dies am Schauspiel Köln, an dessen rauer Spielstädte Depot im populären Viertel Mühlheim (der geplante Umbau des Theaters ist ein riesiger Planungs- und Finanzskandal, die letzten Kostenschätzungen belaufen sich laut Spiegel 47/19 auf 841 Millionen Euro, Eröffnung: 2024).
In der sehr breiten Halle hat Bühnenbildner Philip Bußmann einen weißem Cinemascope-Kasten mit fünf Öffnungen gebaut – eine pro Figur – in dem einige wenige Requisiten, ein Sessel, ein Klavier, eine Leiter oder eine Treppe, die verschiedenen Räume des Ferienhauses andeuten. Die Kostüme (Katharina Beth) sind zeitlos wie die Tragödie, die sich unabwendbar vor unseren Augen abspielt. Mary könnte durchaus auch eines der Opfer der aktuellen Opioid-Epidemie in den USA sein. Wie schon bei Zola setzt Perceval auch hier auf radikale Reduktion, die Stimmung erinnert des öfteren an eine Installation der belgischen Künstlerin Ann Veronica Janssens, die mit Licht und Nebel die Verlorenheit des Menschen im Universum erfahrbar macht.
Die Herausforderung an die Schauspieler, die das Bühnenbild birgt, sind gewaltig: alle Figuren sind isoliert, jede in ihrem Kasten, beständig beobachtet. Auch intime Szenen, wie die aufreibenden Dialoge zwischen den Eltern und den Söhnen, müssen schon mal auf Distanz gespielt, die Texte frontal ins Publikum gesagt anstatt dem Gegenüber entgegengeschleudert werden. Astrid Meyerfeldt ist eine verstörend zarte und empfindsame Mary, deren zierliche Glieder von Rheuma und Drogen zerfressen, kaum mehr Halt bieten. „Die Vergangenheit ist doch die Gegenwart und auch die Zukunft“, sagt sie.
Ihr Mann James (André Jung) scheint der ruhende Pol der Familie zu sein. Er wirkt jedoch zunehmend verstockt, grunzt bloß, wenn er unzufrieden ist. Bis auch er zugibt, seine Träume aus reiner Gier aufgegeben zu haben: „Das Geld hat wohl meine Kariere ruiniert.“ Wie gerne hätte er weiter Shakespeare gespielt, hatte sich allerdings für populäre Gassenhauer entschieden, um besser zu verdienen, und hat sich jetzt zum Immobilienspekulanten entwickelt.
Séan McDonagh gibt den älteren Bruder Jamie als Rebell à la James Dean, derweil Nikolay Sidorenko der schwächere, der Zweifler ist. Maria Shulga als Cathleen bleibt diskret und scheu im Hintergrund, versucht, die Familie zu verstehen, doch sie kann nur den Kopf schütteln; ihre Begleitung am Klavier wird immer dissonanter. Sie spricht die Regieanweisungen, zum Beispiel die langen Passagen über Marys ratlose Hände, doch sie werden nicht umgesetzt.
„Die Sucht ist tief verwurzelt in unserer Kultur“, sagte Luk Perceval in einem Interview. Mit diesem Stück beweist er erneut, dass er ein Meister der Abstraktion und des Minimalismus ist, und somit das Stück auch heute noch lesbar macht. Schuld und Vergebung sind universelle Themen. Jeder liebt und hasst seine Familie – „Familles, je vous hais!“, schrie André Gide. Jeder erkennt in diesem Stück Gefühle und Erfahrungen, die er in seiner Familie machte – wenn auch wohl in abgeschwächter Form. Tom Leick, der Direktor der Théâtres de la Ville, war bei der Premiere des Stückes im November anwesend, es wäre zu hoffen, dass er die Produktion nach Luxemburg bringt.