Erklärung zur Lage der Nation

Der sichere Weg ist bis 2017 aufgeschoben

d'Lëtzebuerger Land vom 12.04.2013

Man kann die Lage der Nation aus diesem oder jenem Blickwinkel betrachten. Stets steht die Krise unübersehbar im Mittelpunkt. Auch wenn Premier Jean-Claude Juncker sich am Mittwoch in seiner Erklärung zur Lage der Nation bemühte, mit Blick auf die Wahlen in einem Jahr schon eine positive Bilanz der Legislaturperiode zu ziehen. Gegen alle Anfeindungen von Opposition, Unternehmerverbänden und einigen Ungeduldigen aus den eigenen Reihen versuchte er, die Reformfreudigkeit von CSV und LSAP unter Beweis zu stellen.

Aber wer wollte das schon hören? Wie in den Vorjahren (d’Land, 8.4.11.) war von dem begnadeten Geschichtenerzähler an der Spitze der Regierung erwartet worden, dass er endlich dem Parlament von der Zukunft eines winzigen Landes in einer riesigen Welt nach der großen Krise erzählt hätte. Das brave Wahlvolk schien noch immer bereit, weitere Mühsal in Kauf zu nehmen, wenn der Held der Konservativen, die nicht mehr richtig konservativ sein wollen, endlich als Happyend eine glückliche Heimkehr dorthin versprochen hätte, wo alles ist, wie es nie war. Die Unternehmer hatten noch immer die von 5 vir 12 und 2030.lu vorbereitete Geschichte von einem neuen Land hören wollen, in dem sie so ungehindert wie nie Handel treiben können und das ihnen stets einen sicheren Heimathafen zur Eroberung fremder Märkte bietet. Doch wieder gingen alle leer aus, die sich nichts sehnlicher als eine schöne, abgerundete und zusammenhängende Erzählung gewünscht hatten, die Aufbruchstimmung verbreitet und einen nach anderthalb Stunden Zuhören ein wenig von einem gemütlichen Sozialstaat und einem entfesselten Wirtschaftsstandort weiterträumen gelassen hätte.

Doch die Krise und ihre Auswirkungen auf die Staatsfinanzen ließen weder dem Premier, noch seinen Zuhörern Zeit zum Träumen. Der für 2011 angekündigte Konjunkturaufschwung muss Jahr für Jahr aufgeschoben werden. Für 2013 kündigte Jean-Claude Juncker ein Prozent Wachstum an. Vor nicht einmal vier Monaten hatte die Kammer einen Staatshaushalt verabschiedet, der noch auf ein Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent gebaut war, mit den entsprechend höheren Steuereinnahmen und niedrigeren Arbeitslosenausgaben.

Die Hoffnungen der Regierung, dass sich das Wirtschaftswachstum noch rechtzeitig zum Wahljahr 2014 einstellen und die Wähler in leichte Euphorie versetzen wird, werden nicht erfüllt. Zum Trost versprach Juncker nun 3,8 Prozent Wachstum für 2016. Gleichzeitig gab er aber zu verstehen, dass er sich selbst nicht mehr glaubt, und bekannte sicherheitshalber sein „wachsendes Misstrauen“ gegenüber jeder Art von Prognosen. Immerhin hatte sich derselbe Juncker in seiner Erklärung zur Lage der Nation genau zehn Jahre zuvor noch in hellseherischem Ton dafür eingesetzt, dass das Wirtschaftswachstum künstlich gedrosselt werden soll, damit die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Wie peinlich ist es für die Regierung und vor allem für die über die Staatsfinanzen wachende CSV, dass sie vom versprochenen „sicheren Weg“ abgekommen und unfähig zum „hausväterlichen Umgang“ mit den Steuergeldern geworden ist! Was diese Regierung als völlig alternativlos versprach und am Ende trotzdem nicht halten konnte, nämlich das „gesamtstaatliche Gleichgewicht“ bis 2014 wieder zu erreichen, kündigte der Premier nun selbstsicher im Namen der nächsten Regierung bis „frühestens 2016 und spätestens 2017“ an.

Doch einstweilen sieht es laut den von Juncker gelieferten Zahlen noch nicht danach aus:

Defizit Gesamtstaat Zentralstaat

2012 -0,8 % -2,6 %

2013 -0,7 % -2,2 %

2014 -1,3 % -2,6 %

2015 -3,0 % -4,1 %

2016 -2,8 % -3,7 %

Dieses Jahr erwirtschaftet der Staat wahrscheinlich ein Defizit in gleicher Höhe wie vergangenes Jahr. Mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass sich 2012 die Regierung und die Mehrheitsfraktionen bis zum Votum des Haushalts in einem mehrmonatigen Melodrama gegenseitig gleich drei „Konsolidierungspakete“ von insgesamt mehr als 900 Millionen Euro abgerungen hatten.

Für 2014 rechnet die Regierung sogar mit einer Verdoppelung des Haushaltsdefizits von 340 Millionen Euro dieses Jahr auf 630 Millionen beim Gesamtstaat von Zentralstaat, Gemeinden und Sozualversicherung und von 1 150 Millionen beim Zentralstaat allein. Das macht aber immer noch bloß 1,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus, nicht einmal die Hälfte des laut Maastrichter Stabilitätskriterien zulässigen Defizits. In einem Wahljahr erscheinen der Koalition 1,4 Prozent Defgizit weniger bedrohlich als weitere Steuererhöhungen und drastische Ausgabenkürzungen.

Denn der Premier kündigte an, dass im Haushalt nächstes Jahr zwischen 250 und 300 Millionen Euro „konsolidiert“ werden sollen. Um diesen Betrag zusammenzukratzen, will die Regierung von weiteren, insbesondere kurz vor Wahlen riskanten Steuererhöhungen mit Ausnahme der Besteuerung des Mehrwerts auf Grundstücken absehen. Stattdessen soll weiter auf Kosten der Grenzpendler gespart werden, denn „nicht alles, was juristisch stichhaltig ist, ist materiell und sachlich nachvollziehbar“, wenn es um den „Export“ von Sozialleistungen gehe. Nach dem bevorstehenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs sollen auch die für Einheimische sehr großzügigen Studienbeihilfen erneut reformiert werden. Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen gedrosselt und die Beiträge der Versicherten wohl auch erhöht werden, aber wieder ohne die gesetzlich vorgesehene parallele Erhöhung des staatlichen Beitrags. Außerdem sollen die Wohnungsbeihilfen und Wiederbeschäftigungshilfen gekürzt sowie die Zinsvergütungen beim Wohnungsbau und die Solidaritäts-Vorruhestandsregelung abgeschafft werden. Die Investitionsausgaben sollen real gesenkt werden und die sehr großzügigen Mittel für Forschung und Hochschule um weniger als zehn Prozent jährlich steigen.

Doch eine solche „Konsolidierung“ von 250 bis 300 Millionen Euro würde nächstes Jahr lediglich ein Drittel des diesjährigen Betrags ausmachen und das Defizit verdoppeln. Juncker griff allen Kritiken vor, „dass viele Leute es mutig fänden“, wenn er für 2014 „Einsparungen von einer Milliarde angekündigt“ hätte. Aber das wäre „kontraproduktiv für unsere Wirtschaftswachstum, für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und des Konsums im Land“.

Die pünktliche Wiederentdeckung der antizyklischen Konjunkturpolitik in einem Wahljahr müssten die Fraktionssprecher von CSV und LSAP aber anders sehen. Schließlich hatten sie schon vergangenes Jahr den Aufstand gegen Haushaltsminister Luc Frieden geprobt, der sich später von seinem eigenen Haushaltsentwurf distanzieren sollte. Im Herbst hatten die ehemaligen Gewerkschafter Marc Spautz und Lucien Lux sogar angekündigt, dass sie der zögerlichen Regierung für die kommenden Jahre schon zeigen werden, wie der Staatshaushalt ins Lot gebracht wird und was selektive Sozialpolitik ist. Versuchen sie nun erneut, zusätzliche Einsparungen von einigen hundert Millionen zu erzwingen? Oder sorgen sie sich ebenfalls um ihre Wiederwahl und vertrauen lieber darauf, dass der Staatshaushalt sechs Monate vor den Wahlen noch durch außerordentliche Einnahmen und die Senkung der Staatsschuld um zwei Milliarden Euro herausgeputzt wird? Denn die Regierung plant, zum Jahresende, wenn das Notdarlehen ausläuft, die staatliche Beteiligung an der Generalbank zu Bargeld zu machen.

2015 droht das Defizit sogar die Drei-Prozent-Grenze zu erreichen. Denn das Wirtschaftswachstum soll mit schätzungsweise 1,9 Prozent schwach bleiben, und der Staatskasse drohen Hunderte Millionen Euro zu entgehen, wenn die bis zu 700 Millionen Euro einbringende Mehrwertsteuer auf dem elektronischen Handel schrittweise in den Kundenländern erhoben wird.

Um diesen Einnahmeausfall auszugleichen, wusste Jean-Claude Juncker schon, dass die nächste Regierung ab 2015 die Mehrwertsteuersätze erhöhen wird, „aber so, dass wir die niedrigste Mehrwertsteuer in Europa behalten“. Die nächsthöheren Regelsätze nach den 15 Prozent in Luxemburg gibt es derzeit mit 18 Prozent in Zypern und Malta sowie 19 beziehungsweise 19,6 Prozent in Deutschland und Frankreich. Damit der Einnahmeausfall ausgeglichen würde, müsste nach Berechnungen des Finanzministeriums der Regelsatz von 15 auf 18 Prozent erhöht, der verminderte Satz von 12 Prozent abgeschafft und der superreduzierte Satz von drei Prozent auf sechs Prozent verdoppelt werden. Aber eine dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung dürfte auch die nächste Regierung weder den Wählern, noch der Wirtschaft zumuten.

Um im Wahlkampf weniger Angriffsfläche zu bieten, kündigte der Premier an, dass die nächste Regierung die geplante Mehrwertsteuererhöhung im Rahmen einer „breiteren Steuerreform“ vornehmen werde, wie sie die Opposition seit Monaten verlangt. Da bei einer Steuerreform immer auch öffentliche Mittel umverteilt werden, ließ der Premier lieber im Unklaren, wie diese Steuerreform aussehen soll. Aber so können die Wähler im Mai nächsten Jahres selbst darüber entscheiden.

Am Mittwoch versprach Jean-Claude Juncker jedenfalls einerseits, dass die von der DP heftig umworbenen „so genannten Mittelschichten […] nicht benachteiligt werden“ sollen, andererseits betonte er aber auch, dass einer die Oberschichten treffenden „Erhöhung des Spitzensteuersatzes Grenzen gesetzt sind“, um keine ausländischen Fachkräfte abzuschrecken. Und „wir können und werden die Betriebsbesteuerung nicht nach oben anpassen“, versprach der Premier auch noch. Unter dem Strich blieben da bloß noch die Unterschichten, um die Steuerreform zu bezahlen.

Romain Hilgert
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