Theater

Rauschendes Leben am seidenen Faden

Vier Darsteller des Stücks Der himmelblaue Reiter
Foto: Tete Queiroga
d'Lëtzebuerger Land vom 25.05.2018

„Eine Werkstattinszenierung“ heißt es schnöde in der Ankündigung des Stücks Der himmelblaue Herr, und den Namen Fanny Sorgo hat man noch nicht gehört in Luxemburg. Doch die junge Österreicherin (Jahrgang 1993) mit den blau gefärbten Haaren wird man sich merken, denn ihr Theaterstück beeindruckt: sprachlich wie durch Ideenreichtum. Die Inszenierung auf der kleinen Bühne im Kasemattentheater – beruhend auf dem Konzept von vier jungen Schauspielern, vorwiegend Absolventen des Wiener Max Reinhardt Seminars, darunter der Luxemburger Max Gindorff – ist durchgeknallt, aber in sich stimmig. Das Stück wirkt geschrieben wie ein cadavre exquis, wie zufällig scheinen Sorgos Figuren zusammengewürfelt, ein jeder abhängig vom nächsten und doch hoffnungslos allein in einer kaputten Welt ...

Da ist Großmutter Eva Zulus, die nach Jahren der Anpassung nicht so weitermachen will und abrupt die entgegengesetzte Richtung einschlägt. Wütend wird sie sich irgendwann die Perücke vom Kopf reißen, ihrer wahren Identität auf der Spur. Ihre Tochter Anika (Clara Schulze-Wegener) ist ungewollt schwanger und unter heftigen Blutungen dabei ihr Kind zu verlieren. Im Krankenhaus treffen die beiden aufeinander und Eva stellt ihrer Tochter erstmals ihren Vater vor: Zahnchirurg Konrad rettete Eva einst einen Zahn, der nur noch an einem seidenen Faden hing ... Anikas Mann wird bei einem Motorradunfall den Kopf verlieren und sie selbst in einem Zugabteil ihren Sohn zur Welt bringen: Florentin Fartely. Der wird davon träumen ein Grillferkel zu sein: gewärmt und geliebt. Auf der Suche nach Geborgenheit wird Florentin sich in die tänzelnde Nathalie verlieben und gemeinsam taumeln sie fortan liebestrunken durchs Leben.

Das Bühnenbild: ein viergeteilter Kasten – eine wackelige Konstruktion! So brüchig wie die vier Figuren, die sich in ihrem Viereck bewegen wie auf einem Tableau: Mal halten sie sich an den Stäben des Baugerüsts fest, mal krallen sie sich aneinander und suchen Halt beieinander, um dann wieder auszuscheren. Ein junger Mann hängt über einer Kloschüssel, weil er das Leben zum Kotzen findet und „sich zu wenig fühlt“. Ein anderer (der Zahnchirurg) trägt eine Schweißerbrille und einen Bohrer in der Hand. Nathalie steht in gelben High Heels schräg auf ihrem Teil des Gerüsts und biegt sich in den Wehen, während ihre Mutter im Alter furios ihr Coming Out zelebriert.

Fanny Sorgos Figuren hängen alle eklektisch zusammen, sie hängen auf- und aneinander und speien die Wortspiele des Textes zornig in die Welt: eine dichte Sprache voller Wortwitz und Absurditäten. Wer sich drauf einlässt, kann lachen und kommt doch kaum mit in dem Tempo, in dem sich die vier Schauspieler die Bälle zuspielen. – Ein Psychogramm unserer Ängste und ein Spiegelbild einer krankenden Gesellschaft.

Sorgo, deren Stück Der himmelblaue Herr 2013 für den Retzhofer Dramapreis nominiert wurde, erzählt die Familiengeschichte der Fartelys und die Liebesgeschichte von Nathalie und Florentin stark, und die vier jungen Schauspieler wissen die Worte im Kasemattentheater szenisch in Musik zu verwandeln. Die Inszenierung ist subversiv und dynamisch, die Sätze bleiben an einem haften und wirken dumpf nach: „Das Öl und meine Illusionen sind an mir herabgeflossen und vielleicht kleben sie noch irgendwo in all den Abflussrohren.“ Es sind politische Themen einer jungen Generation, die Gendervarianten durchspielt auf der rastlosen Suche nach der eigenen Identität und der Jagd nach dem flüchtigen Glück, die das Leben aufzusaugen versucht, ehe es vorbei ist und man sich im Altenheim im himmelblauen Hemd gegenübersitzt.

Ganz klar wird zwar nicht, worauf Fanny Sorgo mit ihrem Stück hinauswill, aber vielleicht liegt gerade in dem sinnentleerten Treiben ihrer Figuren die Pointe. Die Inszenierung ist jedenfalls erfahrbar wie ein Rausch. Wenn man am Ende das Kasemattentheater verlässt, fühlt es sich an, als würde man euphorisch-taumelnd von einem Karussell herabsteigen, erfreut, dass es ihn offenbar doch noch gibt: den frischen Wind in der Theaterwelt.

Der himmelblaue Herr von Fanny Sorgo. Eine Werkstattinszenierung im Kasematten-
theater. Konzept und Schauspiel: Markus Bernhard Börger, Max Gindorff, Max Herzogenrath und Clara Schulze-Wegener. Premiere war am 18. Mai. Keine weiteren Vorstellungen.

Anina Valle Thiele
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