Bal führte das Publikum hinters Licht. Mit der im April 2017 im Merscher Kulturhaus getanzten Geschichte um ein Schwesterpaar, das den luxemburgischen Tanz revolutionierte und verschwand, schuf das Tänzerinnenduo Simone Mousset und Elisabeth Schilling eine imaginäre Welt, konstruierte eine Erzählung, täuschend echt. Wenig später überschlugen sich die euphorischen Reaktionen auf Sixfold. Dieses Stück führt an die Anfänge einer Welt, in der die Grenzen verschwimmen. Dass dadurch der Interpretationsspielraum für die Zuschauer weit wird, war von Choreografin Schilling so gedacht, um beim Publikum Kreativität zu wecken.
„Richtig“ und „falsch“ gibt es für Elisabeth Schilling im zeitgenössischen Tanz nicht. Er biete die Möglichkeit, aus diesem dualistischen System auszubrechen. „Weil ich den Zwischenraum und den Rückzug auf die pure Bewegung liebe, habe ich wohl zum abstrakten Tanz gefunden“, sagt sie. Zugleich nutzte sie die Chance, genreübergreifend zu arbeiten: Sixfold ist auch der Versuch einer Symbiose zwischen Tanz und moderner Kunst. Dass die hochgewachsene Frau mit dem aufmerksamen Blick tanzen wollte, wusste sie von klein auf. Für die in Wittlich an der Mosel geborene Tänzerin keine Selbstverständlichkeit. Sie klapperte Ballettschulen ab, nahm Privatstunden und schaffte es ans Konservatorium in Frankfurt am Main: „Es war die klassische russische Schule, aber dort habe ich Balletttechnik erlernt.“ Gleichzeitig wurde sie auf William Forsythe aufmerksam, entdeckte den Meister des avantgardistischen Tanzes – und verstand nichts. „Mir ist einfach der Mund offen stehen geblieben“, erinnert sich Schilling. Forsythe war der Ansporn, Unterricht im zeitgenössischen Tanz zu nehmen. So zog es sie in die britische Metropole. „In London ist mir eine richtige Welt aufgegangen.“ Ballett habe sie von je her erfüllt, aber irgendwie sei da noch der Wunsch nach etwas Künstlerischem gewesen ... „Nun hatte ich das Gefühl, endlich Seelen getroffen zu haben, mit denen ich mich verbunden fühlte.“ Jeden Tag war sie woanders, in Museen und Theatern, machte Bekanntschaften mit Choreografen und Tänzern.
Auf ein Vorbild will Elisabeth Schilling sich nicht festlegen. „Meine männlichen Lieblingstänzer sind Rudolf Noureyev und Boštjan Antončič aus dem Rosas-Ensemble von Anne Teresa de Keersmaeker“. Von Frauen hätten die Kubanerin Judith Sanchez Ruiz und Dana Caspersen von der Forsythe Company sie geprägt. „Ich mag verschiedene Tänzer aus unterschiedlichen Gründen! Manche mag ich ihrer Technik wegen, andere für ihre Präsenz, manche dafür, welche Entscheidungen sie auf der Bühne treffen.“ In tänzerischen Entscheidungen dachte Schilling schon mit 12 Jahren. Sie räumte ihr Zimmer aus und choreografierte alle Handlungsballette neu, ob zu Aschenputtel oder zur Musik von Astor Piazzolla. Choreografie war ihr Ziel. Und doch war ihr bewusst, dass der Tanz Vorrang haben musste, denn: „Du kannst mit 28 nicht mehr sagen, jetzt werde ich Tänzerin.“ Entscheidungen treffe man auch im Tanz ständig: schon bei den ersten Plies und dabei, wie weit man die Arme öffne. Details. „Wie verhalte ich mich zur Musik, zum Raum, zu Farben, und wie setze ich Assoziationen um?“
Seit Sommer 2017 ist Elisabeth Schilling mit Sixfold auf Tournee, hat die nur 25-minütige Tanz-Performance mittlerweile in Museen, Galerien, an Stränden, auf Klippen und in Wäldern gezeigt. Es ist ihre erste eigene Produktion. Für die Tänzerin, die zuvor nie etwas mit einem Objekt gemacht hatte, war das Stück auch eine Herausforderung, um herauszufinden, wie Tanz und Objekt-Kunst miteinander in Beziehung stehen. Daraus habe sie ihre eigene Technik entwickelt. „Ich habe den Künstler Alexander Ruth gefragt, ob er als Antwort auf die Bewegungsmethodik verschiedener Perspektiven auf den Körper eine Skulptur machen könne.“ Daraufhin kreierte Ruth eine 80-Zentimer große Glasfaser-Kugel. Eines Tages habe er in der Tür ihres Studios in Korea gestanden, die Kugel in den Saal gerollt und gesagt: „Mach einen Tanz daraus!“ Während fünf Wochen einer Tanzresidenz in Seoul entstand so die Choreografie Sixfold. Arbeite man mit anderen Tänzern zusammen, inspiriere man sich gegenseitig. „In diesem Fall war mein Inspirationspartner eine Kugel, die vor mir lag.“ – Eine Kugel als Tor zur Welt.
Weil sie ahnte, dass es schwer sein würde, Fuß zu fassen, habe sie ihre Fühler früh ausgestreckt. 2010 stieß sie auf eine Ausschreibung des Luxemburger Trois-CL: Gesucht wurden Tänzer für ein Straßenfest. Als sie 2015 freischaffend wurde und anfing Tanzkurse zu geben, fragte sie abermals beim Trois-CL nach und Bernard Baumgarten sagte ihr sofort eine Residenz zu. So begann die Zusammenarbeit mit Simone Mousset, die Elisabeth Schilling noch aus London kannte, und die Arbeit für die Émergences. „Das Trois-CL ist wie ein Zuhause für mich. Bernard Baumgarten hat den Glauben in uns geweckt und uns geholfen zu wachsen“, sagt sie rückblickend.
Zugang zur modernen Kunst will sie erlangen, weil sie das als Jugendliche vermisst habe, weil sie aus einer Kleinstadt kommt. Heute will sie jungen Menschen zeigen: Es gibt nicht nur Ballett und Hip-Hop, sondern auch eine andere Form von Tanz. Das war der Ausgangspunkt ihrer Tournee. „Von Wittlich aus fuhr ich auf die schottischen Inseln.“ Dort tanzte sie auf den Klippen, im Hintergrund das Meer, und die Choreografie wurde ganz anders gelesen als im geschlossenen Saal des Trois-CL. „Ich habe das Stück an sehr verschiedenen Orten getanzt, jeder Ort hat das Stück beeinflusst und verändert.“ In Aberdeen spielte sie an einer Universität, in einer Art Obduktionssaal – einem weiten, weißen Raum. Auf der Dachterrasse eines Kunstmuseums in Zypern assoziierten die Zuschauer die Kugel mit den Felsen. Obwohl Sixfold überall zu funktionieren scheint, ist es für Schilling eine Herausforderung, es im Mudam zu zeigen. Bewusst wählte sie das Foyer im Keller aus und konzipierte es auf zwei Räume hin.
Bis September wird sie mit ihrem Stück auf Tournee sein, dann ist sie mit der Londoner Compagnie Clod unterwegs. Projekte hat die Tänzerin jede Menge im Kopf. Zurzeit arbeitet sie mit Dana Caspersen und entwickelt parallel ein Projekt mit der Luxemburgerin Melanie Planchard. Wieder geht es um Objekt und Tanz, doch diesmal ganz konkret für den Museumsrahmen. Als Musik schwebt ihr Ligeti vor. In der von Schilling entwickelten Tanztechnik nimmt die Tänzerin sechs verschiedene Perspektiven ein. Alle Inspirationen gehen vom Raum aus. Schillings Augen funkeln, wenn sie davon spricht. „Der zeitgenössische Tanz hat für mich eine Ebene, wo man aus dem Dualistischen ausbrechen kann, die reine Bewegungssprache! Das ist es, was ich suche. Ich will nicht, dass meine Stücke über etwas sind, sondern einfach, dass sie sind. Aber ich stehe noch am Anfang. Es ist ein Lebenswerk zu erforschen, was das sein könnte.“