Man stelle sich vor, man hätte Steven Hawking auf die Bühne geschoben und ihm gesagt: Spiel mit uns Theater! Der Physiker hätte sich höchstwahrscheinlich geweigert, Vorführeffekte waren ihm zuwider. Der Umgang mit Menschen mit Behinderung ist auch in der Kunst eine Gratwanderung. Seit Jahrzehnten wird „Inklusion“ beschworen, und doch mäandern die meisten künstlerischen Projekte, die Menschen mit Behinderung einbeziehen, noch immer zwischen behütender Fürsorge und der Inszenierung von ihnen als Helden, nach dem Motto: Seht her, auch sie können tanzen!
Blickt man auf den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Einschränkungen, so wird zwar überall am politisch korrekten Vokabular geschraubt, der Ruf nach Barrierefreiheit und Inklusion ist in aller Munde, die gesellschaftliche Realität hat sich jedoch kaum geändert, der bemitleidend-fürsorgliche Blick ist noch immer Standard. Leider auch auf der Bühne, wie etwa À part être zeigt, eine Choreografie von Annick Pütz und Thierry Raymond, die im Rahmen des Projekts Blancontact im Merscher Kulturhaus aufgeführt wurde.
Dabei sind einige Details durchaus gelungen. So etwa das Bühnenbild (Trixi Weis): Fäden hängen von der Decke – die Tänzer betreten langsam die Bühne, einander stützend, oder sie rollen in Rollstühlen heran. An den Fäden werden sie Halt machen und vor sich hin stammeln: „I – Ich – Ech“, ein Sprachendurcheinander, das an das Projekt Babel denken lässt. Die farbenfrohen Kostüme (Dagmar Weitze) strahlen Fröhlichkeit aus und stellen die Unterschiedlichkeit der Einzelnen selbstbewusst heraus ... So beginnt der Abend vielversprechend, doch die Choreografie will kein geschlossenes Ganzes bilden, wenngleich einige Bilder gelungen sind.
Während sich die Tänzer in einer Reihe am Bühnenrand aufstellen, herrscht wildes Gemurmel. Klavierklänge von Pink Floyd sind zu hören und Satzfetzen wie: „I was made for loving you!“ Zwei Musiker treten in die Mitte der Bühne und improvisieren am Kontrabass. Der Tänzer Giovanni Zazzera leitet die Tänzerinnen an, seinen Bewegungen zu folgen – ein gelungener Effekt, der sich als Spiel mit Berührungsängsten lesen lässt. Doch wenn zu lieblicher Klaviermusik Personen Rollstühle im Kreis umherschieben, werden die Blicke gerade auf diese „Anderen“ gelenkt. Ästhetisch gelungen hingegen das Bild, in dem Tänzerinnen Seile quer über die Bühne spannen. Verschiedene Sequenzen der Choreografie beeindrucken durchaus, etwa wenn eine Frau an den aufgespannten Seilen hängt und sich darin windet und andere sie zurückziehen werden. – Geometrische Seilspiele von sechs Tänzerinnen, die mit den Seilen ein Quadrat bilden, in das der Rollstuhlfahrer unter melodramatischen Klängen hineingefahren kommt, um darin seine Kreise zu drehen. Doch was wirken könnte, wird in À part être verkitscht: Etwa wenn Tänzer, die zu schweben scheinen, zu sanften Klavierklängen nach herabfallenden Federn greifen. Ein Greifen nach Träumen? Das Zusammenspiel der Tänzer Christiano Dias Andrade und Giovanni Zazzera vermag in der Tat zu beeindrucken: Zu fröhlichen Klarinettenklängen balancieren die beiden mit Plastikgeschirr über eine Picknickdecke – ein Balanceakt, bis das Geschirr durch die Luft fliegt.
Doch der Ausklang bedrückt durch das Abgleiten in Klischees: Am Ende rücken alle zusammen. Zwei Menschen sitzen am Boden, Rücken an Rücken. Einer davon ein alter Mann, der aus dem Rollstuhl gehievt und auf den Boden gesetzt wurde. Dann singen alle unter den Blicken der Anderen Luxemburger Lieder; besonders abgeschmackt wirkt die Szene, in der eine Frau – ohne sichtbare Einschränkung – den gebrechlichen Mann am Boden lasziv mit ihren weiblichen Reizen umgarnt. Und wenn sie am Ende behütend nach seiner Hand greift, ist er wieder da: der Moment der Fürsorge. À part être ist der Versuch eines inklusiven Theaterstücks, das ein Miteinander beschwört, doch einige der Menschen mit ihren Einschränkungen vorführt und einen zurückkatapultiert in eine Zeit, in der der bemitleidende Blick auf Menschen mit Behinderung dominierte. Kein Wunder, dass die überwiegend wohlwollenden Rezensionen fast unisono „die Leistung behinderter Menschen“ betonen. Waren wir nicht schon einen Schritt weiter?