„Es muss ein bisschen Coolitude haben“

d'Lëtzebuerger Land du 22.11.2024

Kälte und Regen. Die Cinémathèque wirkt verlassen, allein zwei Obdachlose haben sich auf den Treppen vor dem Haus niedergelassen, damit sie nicht nass werden. Claude Bertemes, seit 1997 Direktor des Hauses, erscheint in sandfarbenem Pullover und schwarzer Hornbrille. Auch Georges Bildgen ist dabei, Archivar der Cinémathèque. Das Gebäude ist leer, wir nehmen vor den roten Kinostühlen, umringt von Postern mit Marlene Dietrich und John Wayne, Platz. Ein Gespräch über die letzten Jahre – und die großen Renovierungen, die anstehen.

D’Land: Herr Bertemes, Sie waren 15 Jahre alt, als die Cinémathèque 1977 eröffnete. Was sind Ihre ersten Erinnerungen ans Kino?

Claude Bertemes: Mein Urgroßvater war Unternehmer und kam aus dem Elsass nach Differdingen, wo er das Cinéma du Parc eröffnete. Dem Mythos nach ist er auf der Baustelle gestorben, was an Buster Keaton erinnert. Ich konnte später umsonst Schokolade und Eis im Kino essen, was natürlich toll war. Es war ein großer, beeindruckender Saal, ich habe immer vom Balkon hinuntergeschaut. Aber lange Zeit habe ich keine Filme gesehen, weil sie nicht für mein Alter geeignet waren. Mit etwa 15 habe ich damit angefangen, zum Beispiel Antonioni anzuschauen. Nach meinem Studium in Münster habe ich beim hiesigen, deutschen RTL gearbeitet und versucht, Stars zu interviewen. Das war kommerziell, aber spannend – später folgte ein Doktorat zur Unterhaltungsindustrie. Es ist blöd, zu versuchen, rückwirkend eine Linie im eigenen Leben auszumachen, aber es gibt sie schon irgendwie.

Welche gesellschaftliche Aufgabe erfüllt eine Kinemathek Ihrer Meinung nach?

Georges Bildgen: Wir bringen dem Publikum das Filmerbe und die Kinokultur nahe. In dem Sinne verfolgen wir ein Bildungsziel. Wir konservieren einerseits die Filmkopien und erklären diese Arbeit. Aber wir fühlen uns auch zuständig dafür, das Kinoerlebnis, wie wir es kennen, am Leben zu halten und es an die nächsten Generationen weiterzugeben. Dazu gehört auch die Kontextualisierung, denn heute brauchen viele Filme das.

CB: Es ist Fred Junck (Filmsammler und Gründer der Cinémathèque, Anm.d.Red) zu verdanken, dass er die Cinémathèque als Projekt durchboxte. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einer kleinen Stadt. Es wurde jedoch festgestellt, dass wenig Publikum kam. Die Herausforderung war, neue Wege zu finden, Menschen herzulocken, und auch Kinder für das Medium zu interessieren. Das machen wir zum Beispiel durch die UPC, die Université populaire du cinéma: Am ersten Tag standen die Menschen über den Theaterplatz Schlange, um teilzunehmen. Es gibt ein Bedürfnis nach diesen Diskussionen. Für mich ist die Restauration genauso wichtig wie die Arbeit mit dem Publikum.

GB: Seit 20 Jahren bieten wir das Cinema Paradiso und das Schulkino an. Das wollen wir noch weiter ausbauen, wenn der neue Flügel steht und wir einen pädagogischen Raum dafür zur Verfügung haben.

„L’essence finale du patrimoine cinématographique ne se cristallise pas dans la pellicule mise dans un boitier et conservée dans des archives climatisées“, sagten Sie letztes Jahr. Wie groß ist das Archiv denn nun, und was sticht an besonderen Kopien heraus?

CB: Wir sind im Besitz von Clarence Badgers Senorita (1927), einer Art Zorro-Parodie mit einer weiblichen Hauptfigur, Bebe Daniels. Es ist die einzige Kopie, die es auf der Welt noch gibt, und wir sind dabei, sie zu restaurieren. Generell gehen wir überall hin schnüffeln und fragen, ob Kopien zur Verfügung stehen. Ein Netzwerk zu haben ist für die Akquisition unumgänglich. Unser „core-business“ ist nämlich, die Kopien aus dem Archiv zeigen zu können.

GB: Auch für Abel Gances Napoleon (1927) haben wir kürzlich Material nach Paris geschickt, da wir an internationalen Restaurationsprojekten teilnehmen. Insgesamt haben wir 15 000 35mm-Filme, das gängige Kino-Format, und 5 000 16mm-Filme. Sie liegen in klimatisierten Räumen in Cloche d’Or. Wir kontrollieren stetig die Qualität von Ton und Bild. Die letzten Jahre mussten wir uns etwas an das Publikum anpassen; es ist aufgrund des Digitalen gewohnt, eher „geleckte“ Filme zu sehen. Wenn zu viele Kratzer und Laufstrecken drauf sind, sind sie mitunter nicht mehr zumutbar. Aber auch da gehört es dazu, den Menschen zu erklären, aus welchem Grund die Kratzer drauf sind.

Wie entscheiden Sie, was aus diesem Archiv auf die Leinwand kommt?

CB: Das ist eine Frage der Programmierung und der Strategie. Grundsätzlich sind wir kein kommerzielles Kino, aber wir hätten gerne einen zumindest ansatzweise vollen Saal. Nicht immer natürlich, auch im Utopia sitzen manchmal nur drei Leute, das ist völlig in Ordnung. Wie ziehen wir die neuen Generationen an, sagen wir 20- bis 30-Jährige? Diese Frage stellen wir uns täglich. Doch auch „schwierige“ Filme, wie Joy Hoffmann sie nennt, zeigen wir. Das Gesamtpaket muss stimmen, der Zeitpunkt und die Kommunikation drumherum. Vor Jahren hatten wir etwas Angst, dass bald nur noch alte Menschen kämen und wir unsere Türen irgendwann schließen müssten. Eine Weile gab es einen Slot namens Essential Cinema. Dort hilft man dem Publikum auf die Sprünge, auch um der Medien-Überflutung entgegenzuwirken. So werden dann 100 Filme strukturiert und hierarchisiert, was insbesondere jungen Menschen helfen kann, in die Filmkultur einzusteigen.

Trotzdem stellt man fest, dass Sie sehr oft auf sogenannte klassische Klassiker zurückgreifen. Fellini, Lynch, Kubrick, Hitchcock, Bergman. Cinephile Menschen haben die schon oft gesehen. Woher kommt diese Wahl?

CB: Die neuen Generationen haben diese Filme zum Teil noch nie gesehen. Post-Covid stellten wir fest, dass junge Menschen sich die Klassiker anschauen. Man kann nicht davon ausgehen, dass jeder sie gesehen hat. Für die jungen Leute ist es sehr wichtig, Filme zu sehen, die sich stark von ihren Sehgewohnheiten unterscheiden.

Ist es ein zu großes Risiko für Sie, Raritäten aus dem Archiv zu zeigen, wenn dann nur eine Handvoll Leute im Saal sitzt?

CB: Das machen wir. Bestimmte Filme, die Meilensteine sind, dürfen es jedoch erwarten, mehrmals gesehen zu werden. Ob von alt oder jung. Nicht jeder Film ist gleich, es gibt Hierarchien. Auch wenn man einen solchen Klassiker mehrmals gesehen hat, sieht man jedes Mal etwas Neues. Derzeit zeigen wir surrealistische Filme, was nicht besonders kommerziell ist. Die Reihe wird gut angenommen. Wir sind keine Besuchszahlen-Fetischisten, aber den Leuten muss die Möglichkeit gegeben werden, sich langsam anzunähern. In der Theorie wäre es wünschenswert, jedem Film eine Einleitung voranzustellen – das ist in der Praxis jedoch schwer umzusetzen. Wir wissen nicht genau, wer unser kleines Programmbüchlein von A bis Z liest. Aber 1997 kamen 13 000 Leute im Jahr, derzeit sind es 50 000, das heißt, es läuft gut.

GB: Früher zeigten wir komplette Retrospektiven von Filmemachern, damit haben wir etwas aufgehört, weil die großen Gesamtwerke doch schwer verdaulich sind, sie ziehen sich über zwei bis drei Monate. Entdeckungen muss es natürlich geben, das gehört dazu, auch wenn nur 15 Menschen im Film sitzen.

Der Gemeinderat der Stadt hat am Montag über das Projekt für die Renovierung beraten und es einstimmig angenommen. 43,5 Millionen Euro fließen in die neuen Räumlichkeiten, inklusive neuem Kinosaal. Wie lange sitzen Sie schon daran?

CB: Gefühlt ewig.

GB: Wahrscheinlich fanden die ersten Besprechungen 2017 statt. Das Gebäude der Cinémathèque gehört erst seit etwa acht Jahren der Stadt, vorher vermieteten die Pater von nebenan es uns.

Was erhoffen Sie sich davon und wie wird es die Programmierung beeinflussen?

CB: Ganz wichtig ist, dass nun auch Menschen mit Behinderung zu uns kommen können. Auch mussten die Projektionskabinen verändert werden, damit die Vorführungen dem state of the art von heute entsprechen.

GB: Auch die Sicherheitsstandards werden überarbeitet, etwa ordentliche Notfall-Ausgänge in den Kabinen. Schweren Herzens müssen wir uns von einem großen Teil des Balkons in diesem Saal, dem Vox, verabschieden. Er soll erhalten bleiben, aber ohne Balkon wird er natürlich kleiner. Dadurch ist die Idee eines zweiten entstanden, der etwa 180 Plàtze hat. Dort können dann die größeren Events stattfinden.

CB: Der große Saal wird ganz neue Möglichkeiten bieten, auch für Kino-Konzerte zum Beispiel, die ja derzeit in der Philharmonie stattfinden. Der Geist des Ortes wird hier so bleiben, wie er ist. Insgesamt sind wir sehr vorsichtig mit den Restaurierungen im Vox.

Im neuen Saal ist auch eine Bühne geplant. Wird es künftig multidisziplinarischer zugehen?

CB: Es ist noch zu früh, um das sagen zu können. Mit dem Kapuzinertheater haben wir jedenfalls eine gute Synergie.

Die Baustelle dauert bis 2029. Wo werden die Projektionen bis dahin stattfinden?

GB: Provisorisch steht fest, dass wir im Theater nebenan Filme projizieren können, wenn dort gerade keine Produktionen laufen.

CB: Es gibt Ideen, etwa in der Kirche nebenan Stummfilme zu zeigen. Das Open-Air soll verstärkt werden und wir wollen uns weiter in die Nachbarschaften hinein bewegen. Es gibt einige Pisten.

GB: Viele Menschen entdecken die Cinémathèque ja auf dem Sommer Open-Air auf dem Knuedler.

CB: Es wird eine Art Wanderkino, wie der Crazy Cinematographe vor Jahren. Mit einem Zelt, à l’ancienne.

Die Aufmerksamkeitsspannen werden kürzer. Sich in den Bus zu setzen, um in einen zwei- bis dreistündigen Film zu gehen, ist für manche gar keine Option mehr. Wie wollen Sie dieser Realität in Zukunft Rechnung tragen? Das Arsenal-Kino in Berlin hat zum Beispiel einen digitalen Kinosaal eröffnet, wo restaurierte Filme aus dem Archiv 48 Stunden lang gemietet werden können.

CB: Filme online zu zeigen ist eigentlich keine Option. Die Videos der Université populaire du cinéma setzen wir online, das ist uns wichtig. Ich glaube nicht daran, dass eine Cinémathèque sie online setzen sollte.

Es geht ja nicht darum, sie integral online zu setzen. Gegen Bezahlung kann man diese Filme mieten, dadurch sind sie einem anderen Publikum zugänglich.

CB: Wir zeigen Citizen Kane ja hier, warum sollten wir ihn online setzen? Dass wir eine neue Webseite brauchen, ist klar. Das ist auch in der Pipeline. Zuhause einen Film zu schauen oder im Kino sind zwei verschiedene Welten. Je mehr Leute dem Trend folgen, zuhause mit Popcorn zu schauen, desto mehr werden wir einzigartig.

GB: Wir sind auch ein Kinomuseum, die neuen Generationen sollen in den Genuss des Erlebnisses kommen. Sie kommen zum Beispiel im Rahmen der Afternoon Adventures mit oder ohne ihre Eltern.

CB: Worüber ich nachts nachdenke, ist mein Flipper, der ist nämlich zum Thema Kino. Wenn wir an dem neuen Ort noch Platz fänden für so einen Flipper… Für die Jungen muss es nämlich ein bisschen Coolitude haben; dass es mehr ist, als nur ins Kino zu gehen.

Ein Kinobesuch schließt ein Online-Angebot nicht aus. Wie würden Sie denn die Filmkultur der Luxemburger beschreiben?

CB: Im Norden werden mehr deutsche Filme gezeigt, habe ich den Eindruck.

GB: In der Stadt ist die Multikulturalität von Vorteil. Vor 15 Jahren waren es noch verstärkt französische Cinephile, die kamen. Heute ist es viel internationaler geworden, was dazu führt, dass bei asiatischen Filmen etwa englische Untertitel besser ankommen. Das Englische ist viel präsenter. Früher gab es etwa zehn Menschen, die praktisch jeden Tag kamen, heute sind es noch drei bis vier.

Und dabei gab es in Luxemburg-Stadt früher wesentlich mehr Kinos als heute.

GB: Das ist schade. Der Untergang der Säle hat vor mehreren Jahrzehnten begonnen, weil die Nachfrage sank. Dass Luxemburg keine Weltstadt ist, hat dazu beigetragen, dass manche nicht gerettet werden konnten.

Was hat Sie als Direktor in den letzten fast 30 Jahren am meisten geprägt?

CB: Bevor ich Kinder hatte, bin ich einmal mit einem Kollegen aus dem Filmmuseum München nach New York gefahren. Wir wollten Elemente finden, um Mr. Arkadin von Orson Welles zu restaurieren – es ging darum, die längste mögliche Fassung wiederherzustellen. Peter Bogdanovich, der damals Welles’ rechte Hand war und mit ihm daran gearbeitet hatte, schaute sich die Arbeit an und sagte: „Yes. This is what Orson would have done.“ Das war ein großer Moment.

Werden Sie nach der Renovierung aufhören?

CB: Bereits im Lauf des nächsten Jahres werde ich irgendwann nur noch als Zuschauer her kommen, weil ich in Rente gehe. Mein Nachfolger steht noch nicht fest.

Fuschneu

Im April 2025 fangen die Renovierungsarbeiten im alten Teil der Cinémathèque an, sie dauern bis November 2026. Das Architektenbüro Fabeck ist für das Projekt verantwortlich und hat in Zusammenarbeit mit dem INPA dafür gesorgt, dass die historischen Elemente, wie etwa die farbigen Glasfenster und die Treppe, erhalten bleiben. Ein Neubau namens Lux, mit Fassade aus Lochblechern, einem begrünten Dach und Fotovoltaik-Anlage, wird im Innenhof hinter der jetzigen Cinémathèque entstehen. Der neue Kinosaal und ein Foyer finden dort ihren Platz. Im alten Gebäude, wo sich derzeit der Ticketshop und der Eingang befinden, ist ein Bistro mit Terrassenzugang geplant. Die beiden Räumlichkeiten werden über eine unterirdische Passage verbunden sein. Die Toiletten im Untergeschoss des alten Gebäudes werden abgerissen und ein Fahrstuhl installiert; ins Gebäude entlang der rue Willy Goergen kommt ein Raum zu pädagogischen Zwecken. Der Umbau kostet 43,5 Millionen Euro und wird 2029 abgeschlossen sein.

Sarah Pepin
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