Für Aufregung sorgte vor einem Jahr Kabam: In Luxemburg gebe es nicht genug Fachpersonal, deshalb sei man gezwungen nach Berlin umzuziehen. Die Ankündigung des US-amerikanischen Online-Spieleherstellers, der drei Jahre zuvor Büros in Strassen bezogen hatte, beschäftigte kurz darauf den parlamentarischen Wirtschaftsausschuss und wenig später sogar das Plenum der Abgeordnetenkammer. Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) musste sich fragen lassen, ob die IT-Strategie der Regierung noch intakt sei.
Ähnliche Klagen über einen Mangel an IT-Personal hierzulande werden Skype nachgesagt. Das Hauptquartier des zum Microsoft-Konzern gehörenden Internet-Dienstleisters hat seinen Sitz an den Rives de Clausen. Geforscht und entwickelt wird dagegen vor allem in Tallinn im IT-Wunderland Estland, wo die Bürger bei Wahlen sehr modern per SMS abstimmen können statt in einem Wahllokal einen Zettel in einen Kasten zu werfen. Skype habe darüber nachgedacht, in Forschung und Entwicklung in Luxemburg zu investieren, weiß Jean-Paul Hengen, der bei der Innovationsagentur Luxinnovation den IT-Cluster koordiniert. „Doch dann hieß es, es fehle hier an Softwareentwicklern, Telekom-Experten und IT-Sicherheitsleuten.“
Hengen kennt den IT-Fachkräftemangel auch aus eigener Erfahrung. „Ich bin derzeit mit Firmen im Gespräch, die Software für New-Media-Publishing bereitstellen und vielleicht an einer Niederlassung in Luxemburg interessiert wären. Die fragen mich: Gibt es bei Ihnen Wirtschaftsinformatiker? Leider muss ich antworten: Die haben wir nicht.“
Droht Luxemburg an seinen Ambitionen, zur „IT-Nation“ werden zu wollen, zu scheitern weil es „keine Leute gibt“? Schon möglich. Im Grunde habe jedes entwickelte Land ein Fachkräfteproblem, denn „alle wollen IT machen“, sagt Xavier Buck, einer der Pioniere unter den Luxemburger IT-Unternehmern, der in den vergangenen 15 Jahren ein ganzes Netz von Internet-Dienstleistungsbetrieben sowie das Data Center Luxembourg aufgebaut hat. Unlängst hat er eine Firma in Seattle eröffnet, der Heimat von Microsoft. Dort sei die Personalknappheit „noch schlimmer als bei uns“. Luxemburg sei „verglichen mit den ganzen USA gut dran, denn wir können auch in Spanien, Portugal oder Osteuropa rekrutieren und schaffen das auch“.
Das hat dann doch mit spezifisch Luxemburger Umständen zu tun. Die IT-Strategien schon der vorigen Regierungen beruhten wie der Ansatz der aktuellen nicht in erster Linie darauf, die Branche von innen her zu entwickeln, sondern Firmen aus dem Ausland anzuziehen. Mittlerweile gebe es im Sektor ICT, den Informations- und Kommunikationstechnologien von der Softwareentwicklung bis zur Telekommunikation, 15 000 Arbeitsplätze, bilanziert Gérard Hoffmann, Generaldirektor von Telindus und Präsident von Fedil-ICT. „Im vergangenen Jahr wuchs die Beschäftigung im ganzen Land um 2,5 Prozent, in der ICT-Branche um 4,7 Prozent. Das entsprach 750 neuen Arbeitsplätzen.“ Das überdurchschnittliche Wachstum des Sektors sei ausgerechnet seit dem Ausbruch der Finanzkrise zu beobachten.
Eigentlich keine schlechte Nachricht. Das Problem ist nur: Im Verhältnis zur Landesbevölkerung ist die ICT-Branche schon jetzt so groß, dass ihr Personalbedarf aus heimischen Quellen nicht gedeckt werden kann – wie das auch in anderen Sektoren der Fall ist. Dass die Informations- und Kommunikationstechnologien in nahezu allen Gesellschaftsbereichen immer weiter vordringen, steigert den Bedarf zusätzlich. Kein Wunder, dass Paul Heuschling, der Dekan der Fakultät für Natur- und Technikwissenschaften der Universität Luxemburg, feststellen kann: „Unsere Bachelor-Studenten im Bereich IT haben schon ihren späteren Job in der Tasche, noch ehe sie die Abschlussarbeit fertiggeschrieben haben.“ Weil man um die Personalknappheit im Lande weiß, werde die Fakultät die IT-Ausbildung ausbauen, kündigt Heuschling an. Ab 2016 werde es neben dem akademischen Bachelor, der auf das Master-Studium vorbereitet, auch einen Bachelor professionnel geben, sowohl im Vollzeitstudium als auch berufsbegleitend. Mittelfristig könnten an die hundert IT-Bachelors im Jahr die Uni verlassen, schätzt Heuschling. Reichen, um der Knappheit beizukommen, wird das freilich nicht.
Und hinzu kommt: „Wir locken ICT-Firmen ins Land, die die Besten brauchen“, sagt Xavier Buck. „Das sind kaum Start-ups, die noch am Anfang stehen, sondern eher Firmen, die schon Erfolg haben und Online-Marketingexperten, Suchmaschinen-Optimierer und Software-Entwickler suchen.“
Was also ist zu tun, damit die im schicken Computersprech vorgetragene Ankündigung des Wirtschaftsministers zur Eröffnung der Frühjahrsmesse, das Land gehe einem Upgrade auf „Luxemburg 3.0“ entgegen, nicht Propaganda bleibt? Unternehmer und Firmenchefs aus dem ICT-Bereich haben viel Lob für die Regierung übrig. Sie sei „kollaborativer“ als ihre Vorgängerin, findet Gérard Hoffmann, „da weht ein frischer Wind“. Mit der Strategie Digital Luxembourg, einem work in progress, das Premier Xavier Bettel im vergangenen Herbst persönlich vorstellte, weil er auch Kommunikationsminister ist, wurden sechs Task forces eingesetzt, darunter eine für e-skills, elektronische Fertigkeiten also. Claudine Kariger vom Service des médias im Staatsministerium, die die Gruppe koordiniert, weiß: 2014 konnte von 800 Stellenangeboten in der ICT-Branche ein Drittel nicht besetzt werden. „Und dass obwohl schon lange auch über die Großregion hinaus rekrutiert wird, bis hinter Paris, Lyon oder weit nach Deutschland hinein. Und international, soweit es geht.“
Was man tun könnte, wird in der Task force mit allen denkbaren Akteuren besprochen: mit Unternehmern, der Universität, dem Bildungs- und dem Wirtschaftsministerium, der Einwanderungsbehörde im Außenministerium. „Wir analysieren die sozioprofessionellen Segmente der Bevölkerung und schauen nach einem Mangel im ICT-Sektor. Daraus folgt dann, woran wir kurz-, mittel- und langfristig arbeiten.“ Dabei gehe es der Task force „nicht nur um hochspezialisierte Firmen, die exzellente Köpfe suchen, sondern zum Beispiel auch um Handwerksbetriebe, die IT-Kompetenzen benötigen, aber nicht unbedingt Top-Informatiker“.
Eine Idee, die vielleicht noch nicht dieses Jahr realisiert wird, aber „mittelfristig“ bis 2017, ist ein „Kompetenzzentrum“ zur ICT-Weiterbildung. Vorbild könnte eine Initiative des Handwerkerverbands sein: Die Fédération des artisans will schon demnächst für die Bereiche Innenausbau und Haustechnik des Baugewerbes die Weiterbildung in je einem Zentrum bündeln. Finanziert würden die zwei Zentren durch einen Beitrag sämtlicher FDA-Mitgliedsbetriebe von 0,25 Prozent der Lohnmasse der Firmen; darüber besteht schon Konsens. „Weil Haustechnik heutzutage viel mit ICT zu tun hat, kam der Gedanke auf, ein solches Zentrum auch für ICT zu schaffen“, erläutert FDA-Generalsekretär Romain Schmit. In der e-skills-Gruppe wurde abgemacht, dass Staat und ICT-Branche gemeinsam eine Studie finanzieren, die ermitteln soll, was man weiterbilden sollte. Bis zum Sommer soll sie vorliegen. Angedacht sei, sagt Schmit, Weiterbildungsangebote, die Großunternehmen von Microsoft bis Cisco machen, nach Luxemburg zu holen. „Im Ausland gibt es das schon, bei uns noch nicht.“
Eine kurzfristige Maßnahme, hinter der „die gesamte Regierung steht“, wie Kariger betont, soll darin bestehen, Luxemburg „noch attraktiver“ für ausländische ICT-Fachkräfte zu machen. Das berührt auch die Carte bleue, die EU-verbindliche erleichterte Aufenthaltsgenehmigung für „Hochqualifizierte“ aus „Drittstaaten“. Wer als hochqualifiziert eingeschätzt wird, für den entfällt der wochenlange Arbeitsmarkt-Test durch die Adem, der ermittelt, ob, wenn kein Einheimischer, vielleicht ein EU-Bürger für eine freie Stelle infrage käme.
Weil der Kampf um die besten Köpfe längst zu einem Faktor im Standortwettbewerb in Europa geworden ist, tut Luxemburg schon einiges, um attraktiv zu sein. Firmen, die für Expats mit Carte bleue die Umzugskosten, die Wohnungsmiete oder die Privatschul-Gebühr für deren Kinder übernehmen, können das als Betriebskosten von der Steuer absetzen. Im Verfahren um die Aufenthaltsgenehmigung ist zum Beispiel die „mandatierte“ Antragsstellung über eine beauftragte Person erlaubt anstelle durch den Stellenanwärter selber, vor allem, wenn eine Firma gleich mehrere Fachkräfte aus einem Drittstaat anwerben will. Die Entscheidung durch die Einwanderungsbehörde über die Carte bleue ergeht auch schnell, obwohl Luxemburg offiziell über keine Fast-track-Prozedur verfügt und die Regierung sie erst noch einführen will.
Dass das Kabinett am 8. Mai beschlossen hat, das Mindestgehalt für hochqualifiziertes ICT-Personal aus Drittstaaten abzusenken, ist indessen eine Geste an diese Branche ganz direkt: An einen Hochqualifizierten muss mindestens das 1,5-fache des landesweiten Durchschnittsgehalts gezahlt werden, 2014 waren das 69 858 Euro brutto im Jahr oder 5 821 Euro im Monat. Für ICT-Hochqualifizierte soll künftig ausnahmsweise das einfache Durchschnittsgehalt reichen; 46 572 Euro jährlich oder 3 881 Euro monatlich wären das 2014 gewesen. In der Branche wird das begrüßt: „Es kann ein Problem sein, wenn Firmen hierherkommen und dann Luxemburger Gehälter zahlen müssen“, sagt Gérard Hoffmann. „In Berlin, das zurzeit total in ist für ICT-Start-ups, bekommt ein Berufsanfänger 1 500 bis 2 000 Euro brutto im Monat“.
An dieser Stelle wird das Personalproblem der ICT-Branche allerdings komplex: Gehälter von knapp 4 000 Euro im Monat, kann das aufgehen im Hochlohnland Luxemburg, das eigentlich die dank niedriger Lohnnebenkosten hohen Nettogehälter als Standortvorteil anpreist – neben der internationalen Atmosphäre im Land und den „kurzen Wegen“ zur Politik?
Eventuell nicht, und Gérard Hoffmann räumt ein, das „große Problem“ sei die „Immobilienfrage“ – sowohl für Firmen, die eine Betriebsfläche suchen, als auch für ihre Mitarbeiter, die eine Wohnung benötigen. Die Politik müsse dafür sorgen, dass das Angebot wächst, und „die Bauperimeter aufmachen“.
Was sich damit verbindet, sind nicht nur Bedenken, das Hochlohnland könnte gegenüber „billigeren“ ICT-Standorten an Attraktivität verlieren. Sondern auch, dass Luxemburg sich als nicht inspirierend genug für ICT-Leute aus aller Herren Länder erweisen könnte. „Weil wir keine Großstadt wie London oder San Francisco haben, müssen wir ein Ökosystem schaffen, in dem ICT-Leute sich wohlfühlen und ihresgleichen begegnen“, meint Hoffmann. Dabei könnten die Betriebe eine Rolle spielen, etwa indem sie „social clubs“ einrichten. „Gehen die Mitarbeiter hinter die Grenze wohnen, dann bekommen wir so ein Ökosystem nie.“
Wie groß die Gefahr ist, die dem Luxemburger ICT-Boom der vergangenen Jahre drohen könnte, weil der Wettbewerb um Fachkräfte international ist, London cooler ist als Luxemburg-Stadt, die Lebenshaltungskosten in Berlin einer dort schon sprichwörtlich gewordenen „digitalen Bohème“ mit vergleichsweise wenig Geld auszukommen erlauben, ist schwer einzuschätzen. Noch kennt niemand die Einzelheiten des ICT-Fachkräftemangels. „Die Datenlage ist ja in Luxemburg schon immer ein Problem gewesen“, bemerkt Gérard Hoffmann lakonisch.
Aber vielleicht trifft ja zu, was Xavier Buck konstatiert: „Top-Leute, für die eine Firma gerne 5 000 Euro oder mehr Monatsgehalt zahlt, lassen sich vergleichsweise leicht im Ausland anwerben.“ Das größere Problem sei „die zweite Schicht, die nicht so hochqualifiziert sein muss“. Die sei sehr umworben, was vor allem jenen Firmen ein Problem bereite, die schnell wachsen oder schnell wachsen möchten.
Dass das stimmt, und dass es gleichzeitig gerade in dieser Hinsicht an Nachwuchs aus Luxemburg selbst mangelt, darauf deutet hin, dass der IT-Ausbildungsgang, der nach zwei Jahren zum BTS-Diplom führt, nur schwach besucht ist und die Universität bei allen Ausbauplänen zum IT-Studium schon in dem aktuellen Bachelor-Studiengang 50 Prozent mehr Studierende aufnehmen könnte, als sich einschreiben: Junge Menschen hierzulande sind gerne ICT-Nutzer, aber offenbar viel weniger gern ICT-Macher. Und leider, stellt Fakultäts-Dekan Heuschling fest, sei das Interesse an Ingenieurberufen in Luxemburg generell klein. Helfen könne da nur, es schon möglichst früh in der Schule zu wecken versuchen.
Das will die Regierung jetzt tun – ganz gezielt für ICT. Diese Woche stellte Bildungsminister Claude Meisch (DP) die Strategie Digital (4) Education vor. Mit ihr soll nicht nur der Unterricht um multimediale Lehrinhalte ergänzt und eine „digitale Kultur“, wie Meisch es nannte, vermittelt werden. Angedacht ist auch, die Schüler in Ateliers fürs Programmieren zu interessieren und ihnen anschließend Unternehmergeist beizubringen.
Was wie ein ziemlich kühnes Vorhaben klingt. Zumal der Minister noch nicht angeben kann, wie viel die Staatskasse es sich kosten lassen wird (siehe den unten stehenden Text). Auf jeden Fall aber könnte Digital (4) Education nur langfristig wirken. Im Handumdrehen wird sich das ICT-Fachkräfteproblem in Luxemburg wohl nicht lösen lassen.