Kaum ein Klischee über die luxemburgische Literatur hält sich hartnäckiger als das, dass sie vorwiegend von älteren Herren hervorgebracht werde. Nicht ganz zu Unrecht natürlich, und natürlich muss das bloße Vorhandensein eines solchen Klischees noch nichts über die Güte der produzierten Texte besagen. Immerhin gilt es zu bedenken, dass ein solches Klischee notgedrungen an alle möglichen anderen Klischees andockt, die – auch sie womöglich nicht ganz zu Unrecht – über ältere Herren im Umlauf sind, was die einheimische Literaturproduktion insgesamt am Ende in ein doch etwas ungünstiges Licht rückt. Und sogar das: nicht ganz zu Unrecht.
Die neue Reihe „Perspectives“ der Éditions Binsfeld erlaubt vielleicht einen neuen, entspannteren Umgang mit einer Art von Texten, die in Luxemburg mehr als in größeren Literaturbetrieben die Aufmerksamkeit der Leser auf sich ziehen: den autobiografischen Berichten. Hier gibt der Verlag dem Leser sogar einen Leitfaden für die Lektüre an die Hand. Man wolle Autoren eine Plattform bieten, die durch ihr Schreiben biografische Einblicke gewähren wollten, verkündet eine Notiz zu Beginn der Bücher, wobei sich der Verlag explizit die Möglichkeit offen hält, dass damit auch Einblicke in andere Biografien als die eigene gemeint sein können. Weiter heißt es, neben dem Erlebten stünden die gesellschaftliche wie die historisch-kulturelle Dimension im Vordergrund. Dass das literarische Interesse am Text hier unauffällig ausgeklammert wird, könnte sich, falls es gelingt, die Reihe zu etablieren und ihr ein dezidiert literarisches Programm an die Seite zu stellen, als richtungsweisende Strategie der Entschlackung von einheimischen Verlagsprogrammen erweisen.
Die ersten drei Titel der Reihe lassen bereits erkennen, was sowohl im besten als auch im weniger geglückten Fall mit dem angekündigten Konzept gemeint sein kann.
Den Abbes an d’Nicole des vor einem halben Jahr verstorbenen Pol Pütz versammelt die Kurzgeschichten, die Pütz, einer der Mitbegründer der Walfer Bicherdeeg, im Lauf der Jahre für die entsprechenden Anthologien verfasst hat. Ein eigentlich untypisches Buch für eine biografisch orientierte Reihe, da der Bezug zum eigenen Leben hier lediglich in Details angedeutet wird, aber nicht zwingend vom Leser mitbedacht und auf die Figuren übertragen werden muss. In seinen beiden Protagonisten, einem ganz passabel situierten Ehepaar, dessen Hauptsorgen sich zwischen überflüssigen Pfunden und der Suche nach einer für beide Partner annehmbaren Freizeitgestaltung bewegen, entwirft Pütz Szenen einer Befindlichkeit, die dem Leser, falls er Bedenken haben sollte, sie als „typisch luxemburgisch“ einzustufen, doch zumindest bekannt vorkommen wird. Bemerkenswert ist dabei, wie es Pütz gelingt, das jeweilige Thema der Anthologie, und hat es einen noch so zielsicheren Zug zum Großartigen, gnadenlos auf ein essenziell belangloses Alltagsleben herunterzubrechen. Sein Fokus nicht auf das Außergewöhnliche, sondern auf das Allernächstliegende verleiht dem schmalen Band eine schöne, leise Ironie.
Gewissermaßen als Kontrapunkt zu Pütz’ feiner Art der literarischen Distanzierung des Erlebten wirkt Henri Loschs umfangreiches Buch Koppeges a Bosseges. E Schoulmeeschter erzielt, erstaunlicher Weise der einzige Band der Reihe, der sich noch in der nationalen Hitliste wiederfindet. Losch berichtet von seinen Erfahrungen als Grundschullehrer, der einen Werdegang von seiner ersten Anstellung auf dem Dorf durch verschiedene Schulen und Schulformen weiterverfolgt und dabei allerlei Kurioses erlebt, aber auch die Anforderungen des Berufs selbst mitreflektiert.
Über den Zeitraum einer ganzen Lehrerlaufbahn soll, wie es das Konzept der Reihe fordert, auch ein gesellschaftlicher Wandel spürbar werden. Punktuell ist das der Fall, und Teile des Buches könnten sich über kurz oder lang in Büchern für den Schulunterricht wiederfinden. Alles in allem aber hält der Titel, was er an einigermaßen wahllos zusammengetragenem Sammelsurium befürchten lässt: In seiner losen Aneinanderreihung von Anekdoten wirkt das Buch unstrukturiert und zum Teil geschwätzig, was auch daran liegt, dass eine Biografie für sich genommen noch keinen Leitfaden für einen literarischen Lebensbericht abgibt. Hinzu kommt eine spürbare Scheu des Autors, den Gefühlen, die die geschilderten Ereignisse begleiten, das Pauschale und Plakative zu nehmen. Losch gewährt Einblicke in sein Berufsleben, verhüllt aber die Sicht auf alles Private. Er geht so weit, sich im Erzählprozess systematisch von sich selbst zu distanzieren: Nie heißt es einfach „Ich“, sondern immer „den“ oder sogar „eise Schoulmeeschter“, was dem Leser einen empathischen Zugriff auf die Geschichte dieses großväterlich auf Abstand bleibenden Erzählers verwehrt.
Anders verfährt Pe’l Schlechter in De Pol muss an de Krich, seinen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, die er in der unmittelbaren Vorkriegszeit mit einer für die bigotten Verhältnisse des damaligen Luxemburgs skandalträchtigen Liebelei zwischen einem Schüler der Abschlussklasse und der erst fünfzehnjährigen Sofie beginnen lässt. Im ersten Kapitel überfliegt der Erzähler die Irrungen und Wirrungen, die diese Jugendliebe mit sich bringt, bis hin zum Mai 1940, als die historische Katastrophe auch Luxemburg erreicht. An diesem Punkt gibt der Erzähler sich als Hauptfigur seiner Geschichte zu erkennen und wechselt von der dritten in die erste Person, um seine Erlebnisse zu schildern, wie er in die Wehrmacht eingezogen und von einem Kriegsschauplatz auf den nächsten verlegt wird, wie er schließlich gegen Kriegsende flüchten und untertauchen kann. Die Kriegsjahre führen ihn innerhalb kurzer Zeit ganz weit weg von seiner Sofie, und die Liebesgeschichte wird – ein geschickter literarischer Kniff, der überladene Romantik zu vermeiden weiß – erst im Nachwort zu Ende erzählt. Mit seiner differenzierten Sichtweise auf eine Vergangenheit, die weder von der nötigen Anschaulichkeit zurückweicht, noch das Thema mit anklagendem Pathos befrachtet, gelingt es Schlechter, seinem Bericht Bedeutsamkeit über die eigene Biografie hinaus zu verleihen, und gleichzeitig eine Erzählung von hoffentlich bleibendem literarischen Wert zu schaffen.