Die CSV behauptet, sie sei die einzige echte Volkspartei im Land. Keine andere Partei sei in der Lage, so wie sie alle Klassen und Schichten zu bedienen. Möglicherweise hat sie Recht. Das zeigte sich in den vergangenen Tagen, als eine große parlamentarische Koalition der nationalen Einheit den Automatismus der Indexanpassungen für die nächsten drei Jahre außer Kraft setzte, und die einst mit Generalstreiks drohenden Gewerkschaften zu mehr nicht imstande waren als zu einigen kritischen Presseerklärungen. Im Beiprogramm ließ sich CSV-Premier Jean-Claude Juncker Mitte Januar zum Neujahrsempfang des Industriellenverbands Fedil in die Kirchberger Messehallen fahren und herrschte die Unternehmer an wie undankbare Kinder, die nie genug bekommen: „Es reicht!“ Vierzehn Tage später beehrte dann CSV-Finanzminister Luc Frieden die Journée de l’ingénieur am altehrwürdigen Sitz von Arcelor-Mittal, hielt sich nicht mehr lange beim Index auf, sondern erklärte den Mindestlohn und die Renten für zu hoch und fand, dass die Tripartite mangels Effizienz auf das Format eines weiteren Wirtschafts- und Sozialrats zurückgestutzt werden sollte.
Wem soll man nun glauben? Selbstverständlich beiden. Jean Juncker ist der christlich-soziale Spitzenkandidat im Südbezirk, im linken Industrierevier, und macht dort als bekennender Arbeitersohn mit Hochofennostalgie, LCGB-Ehrenrunden und markigen Worten über die kleinen Leute Furore. Luc Frieden ist der christlich-soziale Spitzenkandidat im Zentrumsbezirk, im liberalen Dienstleistungspol, verspricht Beamten und Geschäftsleuten Sicherheit vor Inflation und Einbrechern und macht als wandelnde Powerpoint-Vorführung Furore. Eine echte Volkspartei bedient eben alle und verkleistert die Interessenwidersprüche mit nationalem Zusammenhalt, kirchlicher Soziallehre und neuerdings Nachhaltigkeit.
Nach Friedens Auftritt vor den Ingenieuren fragte die LSAP nervös, welche Koalition die CSV haben wolle. Aber eine echte Volkspartei hat immer mehrere Eisen im Feuer, damit ihr nicht noch einmal, wie 1974, das angemessene Personal und Programm fehlen und sie deshalb vorübergehend der Macht verlustig geht. Mag sich beispielsweise wieder eine übergroße Wählermehrheit um den Erhalt des Sozialstaats sorgen und erscheint deshalb eine weitere Koalition mit der LSAP unumgänglich, ist die Option klar: Juncker bleibt der ideale Mann, weil er fließend sozialdemokratisch reden kann. Für den Fall, dass die Zeit für einen Wechsel reif ist, empfiehlt sich dagegen Luc Frieden, um mit der DP oder den Grünen als Juniorpartner den Weg in eine strahlende Zukunft vom Sozialklimbim freizuschaufeln. Schließlich liegen da noch Vorschläge auf dem Tisch, es dem Haupthandelspartner nachzutun, der mit Hartz I bis IV, Ein-Euro-Jobs, Ich-AGs und Riester-Renten die Lohnstückkosten so gekonnt senkte, dass die anderen Euro-Staaten konkursreif sind.
Friedens vom Koalitionspartner für etwas eigensinnig gehaltenen Betrachtungen kommen zwei Monate nachdem er während der Haushaltsdebatten überraschend vor dem Parlament angekündigt hatte, dass er im Alleingang breite Beratungen über die Finanzen und die Zukunft des Landes führen wolle. Dass der Finanzminister sich immer ungeduldiger in Pose wirft, ist verständlich. Wäre es nämlich mit rechten Dingen zugegangen, das heißt, wären Jean-Claude Junckers europäische Karrierepläne nicht so tragisch gescheitert, hätte die CSV längst Frieden zum Premier gemacht. Das erklärt nicht nur seine eigene, sondern auch die wachsende Ungeduld der liberalen Opposition aus DP, Grünen, Unternehmerverbänden und jungen CSV-Technokraten mit der in Krisenzeiten bloß noch bei den Wählern populären Juncker-CSV.