Die LSAP-Spitze um den Parteivorsitzenden, den Vize-Premier und den Fraktionssprecher hatte in den zurückliegenden Wochen die Sitzung des 23-köpfigen Direktionskomitees und seiner fünf stimmrechtslosen Beobachter so gekonnt vorbereitet, dass Präsident Alex Bodry am Montag[-]abend als einzigen Kandidaten die rechte Hand des zurücktretenden Wirtschaftsministers Jeannot Krecké, Étienne Schneider, vorschlagen konnte. Das im ersten Stockwerk des Bonneweger Eisenbahnerkasinos versammelte Komitee sprach sich ohne weitere Diskussion mit 20 von 20 Stimmen für seinen Vorschlag aus.
Ein Stockwerk höher war es dann mit der Einmütigkeit vorbei. Im 106-köpfigen Generalrat gab es zwar ein etwas durchsichtiges Plädoyer gegen Schneider, aber das war schon ein Nachhutgefecht. Was dennoch die 15 Delegierten umtrieb, die auf ihrem Wahlzettel das Nein ankreuzten, wurde nicht ausdiskutiert. Vielleicht war es eine bunte Koali[-]tion von Militanten, die einem anderen Interessenten nahe standen; die bedauerten, dass Schneider sich nicht den Kammerwahlen gestellt hatte; die sich einen linken Kandidaten wünschten; die sich auch noch über seinen Nachfolger an Jeannot Krecké rächen wollten – oder die am liebsten selbst Minister geworden wären.
Von den 90 anwesenden Delegierten gingen schließlich 74 Stimmen an Schneider, ein Wahlzettel wurde für ungültig erklärt. Gegen- und Kompromisskandidaten, die darauf gewartet hatten, dass Schneider im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verpassen würde, konnten stumm sitzen bleiben. Arbeitsminister Nicolas Schmit hatte sich gar nicht zu Wort gemeldet.
Dabei hatte Nicolas Schmit noch während der letzten Tage eifrig dafür geworben, es CSV-Kollegen Claude Wiseler nachzumachen und ein sozia[-]listischer „Superminister“ zu werden. Er wollte für Arbeit und Wirtschaft zuständig werden und einen Teil der Kompetenzen, wohl des Arbeitsministeriums, einem ihm unterstellten delegierten Minister übertragen, ähnlich Marco Schank. Angeblich, um „Arbeit und Wirtschaft“ zu vereinen und so in Krisenzeiten beiden besser zu dienen.
Sicher hatte Schmit auf die Unterstützung des Gewerkschaftsflügels der LSAP gezählt, nachdem er vergangenes Jahr als erstes Regierungsmitglied öffentlich das von CSV-[-]Finanzminister Luc Frieden der Tripartite vorgelegte Sparpaket kritisiert hatte und dafür als Held des Moutforter Kongresses gefeiert worden war. Tatsächlich bekam er, nebenE-Mails und SMS alter und neuer Freunde, die Unterstützung des Tageblatt-Leitartiklers, der schon am 17. November seiner Partei geraten hatte: „Man nehme nicht den oder die Genehmste, sondern den gegenwärtig Besten. Er ist schon da, in der Regierung.“ Und der eine Woche später gegen Schneider Stimmung machte: „Was zählt, ist erstens die politische Legitimität, die grundsätzlich im Wählerwillen wurzelt, und zweitens das erwiesene Können.“
Aber seit Schmit auf einem Polizeikommissariat eine Polizeibeamtin unter Druck gesetzt hatte, um seinen Sohn laufen zu lassen, und dafür im Januar während einer demütigenden Parlamentssitzung gerade noch am Rücktritt vorbeikam, ist der vorübergehend vom Quereinsteiger zum Hoffnungsträger avancierte Minister politisch geschwächt. Seine Popularität in Meinungsumfragen hat sich seither nicht mehr erholt.
Nach der Sitzung des Direktionskomitees der LSAP am Montag meinte Parteipräsident Alex Bodry im Zusammenhang mit Schmits Ambi[-]tionen, dass die LSAP-Minister mit großen Reformen beschäftigt seien und sich deshalb auf die zweite Hälfte ihrer Amtszeit konzentrieren sollen. Was auch als Hinweis darauf verstanden werden konnte, dass Schmit erst einmal seine groß angekündigte Reform des Arbeitsamts glücklich zu Ende bringen soll, statt die Lust an seinem Ministerium zu verlieren. Vor drei Monaten war Schmit bereits in der engeren Auswahl für das Amt des stellvertretenden Generalsekretärs der OECD, so dass ihm schon damals Amtsmüdigkeit nachgesagt worden war.
Für eine Neuzusammensetzung der Regierungsressorts zur Ernennung eines „Superministers“ wäre auch der Koalitionspartner CSV nicht zu begeistern gewesen. Zudem hätten es viele Unternehmer als Provoka[-]tion empfunden, wenn ihnen die LSAP ausgerechnet jenen Minister geschenkt hätte, dem sie seit der Tripartite vor anderthalb Jahren als unsicheren Kantonisten misstrauen. Und der Wirtschaftsminister ist nun einmal der Minister der Industrieunternehmer, was für die LSAP immer besonders heikel ist.
Als Argumente für Schneider und – nur wenig verklausuliert – gegen Schmit führte Bodry vor den Parteigremien die personelle Erneuerung in der Partei an, Schneider sei „ein neues Gesicht“. Er ist 40, während Schmit in einigen Tagen 58 wird. Für Schneider spreche auch die Kompetenz und Erfahrung im Wirtschaftsministerium, die selbstverständlich niemand dem Generaldirektor des Ministeriums streitig machen kann. Für das regionale Gleichgewicht in der Partei sei auch von Vorteil, dass ein Minister aus dem Zentrumsbezirk durch einen Minister aus dem Zentrumsbezirk ersetzt werden könne. Der ehemalige Kayler Schöffe Schneider ist nämlich inzwischen aus Tetingen in die Hauptstadt umgezogen. Von Vorteil sei überdies eine möglichst „einfache Lösung“ im Vergleich zu der von Schmit beanspruchten neuen Zusammensetzung der Ressorts und der Schaffung eines „Superministeriums“.
Eifrig bemühten sich in den vergangenen Tagen der künftige Minister und seine Parteispitze, die eigenen Mitglieder und die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass Schneider weder ein Technokrat sei, noch ihm die demokratische Legitimation fehle. Alex Bodry gab zu bedenken, dass Schneider vor seiner Beamtenlaufbahn im Wirtschaftsministerium Fraktionssekretär, Gemeinderat und Schöffe war, Schneider erinnerte daran, dass er 2004 bei den Parlamentswahlen im Süden kandidiert hatte (und 16. wurde). Alex Bodry hatte sogar recherchiert, dass Jean-Claude Juncker auch nicht gewählt und im Südbezirk bloß 18. geworden war, als Pierre Werner ihn in seine Regierung aufnahm. Die DP-Politiker Josy Barthel und Marcel Mart seien ebenfalls ohne Abgeordnetenmandate Minister geworden.
Dass der Wunschkandidat der Parteispitze nun als nächster Wirtschaftsminister designiert wurde, hat als Preis eine etwas chaotische Übergangszeit von zwei Monaten. Sie hätte teilweise vermieden werden können, wenn die Partei erst im Januar einen Nachfolger bestimmt hätte. Doch nachdem Kreckés Rücktrittsabsicht vorzeitig bekannt geworden war, befürchtete die LSAP-Spitze offenbar, dass das Gerangel um die Nachfolge um so größer geworden wäre, je länger es gedauert hätte, und am Ende außer Kontrolle geraten wäre, so dass Schneiders Chancen dahingeschmolzen wären. Die Folge ist nun, dass sich beispielsweise OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding am Montag fragte, ob es noch viel Sinn mache, dass ein Minister auf Abruf an der Tripartite teilnehme, der sich zu nichts mehr richtig verpflichten könne.
Nur wenige Stunden nach seiner Wahl bemühte sich deshalb der künftige Wirtschaftsminister, alle Beteiligten zu beruhigen. Seiner Partei und ihren Wählern versprach er hoch und heilig, dass er sich an die Beschlüsse des Moutforter Kongresses und des Bipartite-Abkommens halte, die besagen, dass das automatische Indexsystem bestehen bleiben soll, aber die Auszahlung der Tranchen aufgeschoben werden kann. Als Arbeitersohn habe er sich „das Leben ohne automatische Indexanpassungen“ gar nicht vorstellen können, versicherte er.
So strebt Schneider zweifellos ein konfliktärmeres Verhältnis zu seiner Partei an als sein Vorgänger. Doch schon heute misstrauen viele Basissozialisten ihrem Genossen als einem intelligenten Zyniker, der am liebsten Aufsichtsratsposten sammelt und seinen Rolls Royce fährt.
Seiner derzeitigen Klientel als Beamte und künftig als Minister versicherte Schneider dagegen, dass sich die Volkswirtschaft „nicht mehr als eine Indextranche binnen zwölf Monaten erlauben“ könne. Denn er habe „jeden Tag Akten von Betrieben in Not“ vorliegen und wisse deshalb, dass insbesondere „die Export[-]industrie immens unter Druck“ sei. Er sei zwar ein „sozial denkender Mensch“, aber auch ein „liberal denkender“. Deshalb versprach er, die Politik Jeannot Kreckés fortzusetzen. Dieser wird in Unternehmerkreisen mitleidig als feiner, aber ohnmächtiger Kerl gelobt.