Das Modewort der Woche heißt „Bail-in“. Für die unter der Schuldenlast zusammenbrechenden Euro-Staaten Griechenland, Irland, Portugal und Spanien beziehungsweise ihre Banken hatte die Europäische Union seit 2008 ein „Bail-out“ organisiert, für Zypern folgte in der Nacht zum Montag ein „Bail-in“. Wenn „to bail out“ soviel heißt wie „aus der Patsche helfen“, müsste man „to bail in“ mit „in die Patsche helfen“ übersetzen. Aber so ist das sicher nicht gemeint.
Stattdessen erklärte der neue Vorsitzende der Euro-Finanzminister, Jeroen Dijsselbloem, am Montag, dass es nur rechtens sei, wenn nicht die Steuerzahler, sondern die Investoren und Kunden das Geschäftsrisiko von Banken trügen. Dies sei die neue Linie. Worauf gleich europaweit die Nachfrage nach Bankaktien abnahm und Dijsselbloem sich missverstanden fühlte.
Das ändert aber nichts daran, dass er Recht haben mag. Doch moralische Prinzipien kommen in der Ökonomie immer nur dann zur Anwendung, wenn sie sich gerade mit der Interessenlage des Stärkeren decken. Bisher lautete der offizielle Glaubenskanon vier Jahre lang, dass es durch und durch jenseits allen Vorstellungsvermögens liege, statt Steuerzahler und Rettungsschirme Investoren und Kunden für das Los privater Banken haftbar zu machen.
Statt, wie etwa im benachbarten Griechenland, die griechischen Banken – und damit auch ihre französischen und deutschen Gläubigerbanken – mit Hilfe griechischer und anderer europäischer Steuergelder sowie eines Schuldenschnitts für den sie bezuschussenden Staat möglichst schadlos zu halten, werden nun von den beiden „systemischen Banken“ Zyperns die eine liquidiert, die andere auf das Format einer überschuldeten Sparkasse zurechtgestutzt. Mit der gleichzeitig angeordneten Beschlagnahme der Hälfte der größeren Einlagen wird der Finanzsektor ruiniert, der drei Viertel der zypriotischen Wirtschaft ausmacht.
In der am frühen Montag verabschiedeten Erklärung der Euro-Gruppe zu Zypern heißt es vor allem auf Betreiben der deutschen Regierung und des Internationalen Währungsfonds, dass nun „die Ungleichgewichte des Finanzsektors“ beseitigt werden sollen. „Es kommt zu einer angemessenen Reduzierung des Finanzsektors, damit der heimische Banksektor bis 2018 den EU-Durchschnitt erreicht.“
Die Zerschlagung des zypriotischen Finanzplatzes war abzusehen. Als die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds vor anderthalb Jahren eine Entwertung griechischer Obligationen beschlossen, entstanden den zypriotischen Banken, die einen Teil ihrer hohen Einlagen in griechische Obligationen investiert hatten, Verluste von mehr als vier Milliarden Euro. Doch die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds machten keine ernsthaften Anstrengungen, um die Folgen für zypriotische Banken abzuschwächen. Die Abschreibung der griechischen Schuldverschreibungen schien schon damals eine willkommene Gelegenheit, um auch den zypriotischen Finanzplatz abzuschreiben. Was nun in der Nacht zum Montag quasi notariell aktiert wurde.
Zum Preis der vergleichsweise geringen Summe von zehn Milliarden Euro – der Luxemburger Staat stellte der Banque générale und der Banque internationale 2008 über Nacht fast drei Milliarden Euro zur Verfügung, nach Griechenland wurden bisher 240 Milliarden Euro gepumpt – wurde Zypern gezwungen, seinen Finanzplatz und damit seine wirtschaftliche Grundlage aufzugeben. Ein Ersatz ist nicht in Sicht.
Der einmütig beschlossene Ruin der winzigen zypriotischen Volkswirtschaft wird mit ihrem parasitären Charakter gerechtfertigt. Doch ihre Kritiker sind nicht frei von Doppelmoral: Was für die einen ein „Finanzdienstleister“ ist, ist für andere ein „Steuerparadies“ – und umgekehrt. Des einen „Oligarchen“ nennt der andere „ausländische Investoren“.
In den zurückliegenden Wochen hatten sich die Kritiken am zypriotischen Finanzplatz zuerst darauf konzentriert, dass er zu nachlässig überwacht werde und so der Geldwäsche diene. Doch auf der infamen „grauen Liste“ der OECD stand im April 2009 Zypern zusammen mit Frankreich, Deutschland und den USA ganz oben unter den Staaten, die „sauber“ seien, während Luxemburg zusammen mit den „Steuerparadiesen“ unter den „anderen Finanzzentren“ rangierte, welche die internationalen Steuerabkommen „nicht substanziell“ anwenden. Die Gewalt der Definitionshoheit kann also jeden erwischen.
Deshalb hatte Finanzminister Luc Frieden schon Anfang des Monats den Verdacht, dass „die Debatte über Zypern mit etwas anderen Kriterien geführt“ werde, wie er in einem Rundfunkinterview erklärte. „Denn verschiedene Länder finden, dass Zypern einen viel zu großen Finanzsektor hat. Eine Frage, die auch Luxemburg direkt interessiert. Das ist ein Kriterium, das bisher nie aufgeworfen wurde.“ Oder wie Jean-Claude Juncker im Zusammenhang mit der inzwischen wieder verworfenen Besteuerung zypriotischer Kleinsparer gegenüber dem Wiener Standard befürchtete, „dass wir von Sonderfall zu Sonderfall Maßnahmen treffen, vor deren Auswirkungen niemand mehr sicher“ sei.
Die Definitionsgewalt lag unter anderem beim deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, der Anfang vergangener Woche im Deutschlandfunk befand: „Das Problem von Zypern ist, dass dieses kleine Land bei seinen Banken ungefähr 70 Milliarden Anlagen hat. Und das sind natürlich zu einem großen Teil Leute, die wegen günstiger steuerlicher Regelungen und möglicherweise auch anderer Rahmenbedingungen ihr Geld in Zypern angelegt haben. [...] Es fällt ja immerhin auf, dass ein Land mit einer relativ kleinen Bevölkerungszahl, einer kleinen Volkswirtschaft, in einem so hohen Maße Bankeinlagen von ausländischen Investoren anzieht. Und dieses Geschäftsmodell ist zahlungsunfähig.“
Vielleicht hat der deutsche Finanzminister nicht ganz Unrecht – wäre Zypern nicht erst vor fünf Jahren korkenknallend in die Euro-Zone aufgenommen worden, ohne dass sich die anderen Euro-Staaten damals an seinem angeblich falschen Geschäftsmodell gestört hätten. Andererseits drückte sich Herr Schäuble noch immer manierlicher aus als sein Vorgänger und als vor vier Jahren dessen SPD-Vorsitzender, die dem Luxemburger Finanzplatz mit der „Kavallerie“ und deutschen „Soldaten“ gedroht hatten, um ihn von seinem Geschäftsmodell abzubringen.
Zum Thema Geschäftsmodell hatte die konservative deutsche Tageszeitung Die Welt vergangene Woche in Erinnerung gerufen, dass die Einlagen bei den zypriotischen Banken 47 Milliarden Euro ausmachten, also „das Zweieinhalbfache der gesamten Wirtschaftsleistung“ eines Bruttoinlandsproduktes von 18 Milliarden Euro. Doch das sei noch gar nichts im Vergleich zum „Euro-Musterland“ Luxemburg: „Der Zwergstaat erwirtschaftet im Jahr nicht mal 44 Milliarden Euro an Gütern und Dienstleistungen, zugleich beherbergen die Kreditinstitute des Großherzogtums 227 Milliarden Euro an Bankeinlagen, also mehr als das Fünffache des Bruttoinlandsprodukts.“ Die Bilanzsumme der Banken in Luxemburg sei sogar 21,7 Mal größer als das Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem bloß 7,2-fachen auf Zypern.
Auf die sich dazu aufdrängende Frage, was die Zypern-Politik für andere Finanzzentren in der Euro-Zone, etwa Luxemburg und Malta, bedeute, hatte Euro-Sprecher Jeroen Dijsselbloem am Montag gegenüber der Financial Times geantwortet: „Es bedeutet: Kümmert euch darum, bevor ihr in Schwierigkeiten geratet! Stärkt eure Banken, bringt eure Bilanzen in Ordnung, und werdet euch bewusst, dass, wenn eine Bank in Schwierigkeiten gerät, die Antwortet nicht mehr länger automatisch lauten wird: Wir kommen und lösen eure Probleme.“ Länder mit übergroßen Finanzplätzen, wie Luxemburg und Malta, oder mit Banken in Schwierigkeiten, wie Slowenien, müssten eben ihre Banken reduzieren.
Auch wenn der Luxemburger Staat in den vergangenen Jahren bereits zwei Banken retten und die Einlagengarantie auf 100 000 Euro erhöhen musste, ist derzeit keine der zypriotischen vergleichbare Bankenkrise abzusehen. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass in einem solchen Krisenfall der Umgang der in der EU tonangebenden deutschen und französischen Regierung mit dem Großherzogtum gelinder als mit Zypern und dessen „Russen“ wäre, da es genügend Tochtergesellschaften deutscher und französischer Banken beherbergt.
Aber auch ohne erneute Bankenkrise stellt sich die Frage, was die neue Politik der Euro-Zone, „hypertrophierte“ Finanzplätze zu reduzieren, bedeutet, wenn die Europäische Zentralbank in einem Jahr die Bankenaufsicht übernimmt. Wird sie in der geplanten Bankenunion ebenfalls das Ziel „einer angemessenen Reduzierung des Finanzsektors verfolgen, damit der heimische Banksektor bis 2018 den EU-Durchschnitt erreicht“, wie es in der Erklärung der Euro-Gruppe vom Montag heißt?
Im Namen der Luxemburger Zentralbank wollte Chefökonom Jean-Pierre Schoder sich das am Dienstag nicht vorstellen, als er meinte, dass die Banken und Investitionsfonds hierzulande historisch gewachsen und diversifiziert seien. Außerdem seien der „heimische Banksektor“ eigenständig Luxemburger Banken und damit auch die Haftungspflicht des Staats nicht übertrieben groß sei. Aus Angst vor einer Kampagne, die der Verunsicherung ausländischer Bankkunden dienen soll, wird inzwischen aus allen Rohren zurückgeschossen. Der Präsident der Bankenvereinigung ABBL, Enst Wilhelm Contzen, rechnete dem Handelsblatt vor, wie sicher die Bankeinlagen seien. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters ärgerte sich Außenminister Jean Asselborn: „Es kann nicht sein, dass Deutschland, Frankreich und Großbritannien sagen: Wir brauchen Finanzplätze in diesen drei großen Ländern und alles andere muss weg.“ Dann reichte die Regierung eine Argumentationshilfe nach, laut der im Sinne des Europäischen Binnenmarkts die Größe eines Finanzplatzes nur an der gesamten Eurozone gemessen werde dürfe. Doch der an der London School of Economics lehrende zypriotische Wirtschaftsnobelpreisträger Christopher Pissarides hatte schon vergangene Woche eine E-Mail verschickt: „Kleine Länder, seid gewarnt, wenn Ihr der Euro-Zone beitretet. Ihr könnt jederzeit von Euren großen Brüdern drangsaliert werden, wenn es ihren politischen Zielen dient.“