Britisches EU-Referendum

Jetzt wird es ernst

d'Lëtzebuerger Land vom 10.06.2016

Am 23. Juni werden die Briten Geschichte schreiben. An diesem Tag stimmen die Bürger des Vereinigten Königreichs über den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union ab. Geht man nach den Quoten der Buchmacher, ist ein Votum für den Austritt aus der EU noch immer höchst unwahrscheinlich. Aber viele Befürworter innerhalb und außerhalb Großbritanniens sind in den vergangenen Tagen nervös geworden. Hatten die Befürworter des „Remain“ seit April in den Meinungsumfragen des Instituts ORB immer vorne gelegen, so weisen die Umfragen an Mittwoch nur noch einen Vorsprung von 48 zu 47 Prozent auf. Andere Meinungsumfragen sehen seit letzter Woche die Brexit-Befürworter knapp vorne. Wer gerade über einen kleinen Vorsprung verfügt, tut dies nur innerhalb der Fehlermargen, die jede Meinungsumfrage ausweist. Wenn auch das Ergebnis unsicher denn je scheint, so sieht doch alles nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Vorausgesetzt, die Institute irren sich nicht wieder so gründlich wie beim letzten Wahlsieg von David Cameron und den Tories.

Bis zum Referendumstag werden noch täglich Wasserstandsmeldungen veröffentlicht werden, die man getrost links liegen lassen kann. Die Schweizer Handelszeitung berichtete im Mai, dass das Ergebnis einer Brexit-Umfrage stark davon abhängt, welches Institut die Umfragen durchgeführt hat. Sie berief sich auf eine Untersuchung von 201 Umfragen zwischen September 2010 und April 2016, die die Zeitung Financial Times durchgeführt hatte. Interessant ist überdies, dass Telefonumfragen regelmäßig höhere Prozentzahlen für einen Verbleib in der EU ausweisen als Online-Umfragen. Interessant ist auch, was Sir Lynton Crosby am 30. Mai im Telegraph beschreibt. Danach hat die Leave-Kampagne beim Thema Einwanderung einen Vorsprung von acht Prozent gegenüber den Remain-Befürwortern. 52 Prozent aller Befragten sind der Meinung, dass Leave bei diesem Thema richtig liege. Beim Thema Terrorismus ist es den Brexit-Befürwortern gelungen wieder mit den EU-Befürwortern gleichzuziehen, beide Lager bekommen 35 Prozent für ihre Positionen. Leave hat damit einen Neun-Punkte-Vorsprung der EU-Befürworter egalisiert. Bei drei Einschätzungen liegt die Remain-Kampagne noch vorne. Sie habe die klarere Botschaft, sei vertrauenswürdiger und liefere eher die Informationen, die Wähler brauchten, um sich zu entscheiden. Aber auch bei diesen drei Fragen ist der Vorsprung der „Remainer“ jedes Mal deutlich gesunken.

Wer als Brite für den Verbleib in der EU stimmen will, hat es schwerer. Denn in den allermeisten Fällen wird es eine Entscheidung des Kopfes sein. Für diejenigen, die aus der EU austreten wollen, dürfte dies eher eine Entscheidung des Herzens sein. Im Kampf von Verstand und Gefühl hatte es der Verstand noch nie leicht. Es bleibt ein schweres Manko der „Remain“-Kampagne, dass sie nicht an die europäischen Gefühle der Britten appellieren kann, weil diese schlichtweg nicht vorhanden zu sein scheinen. Hinzu kommt, dass ein Votum für die EU immer auch ein Votum für David Cameron sein wird, daran kommt man nicht vorbei. Das zu tun, fällt vielen Briten auch nicht leicht. Zu aalglatt, zu taktisch, ja zu verlogen hat sich dieser Politiker in der Vergangenheit erwiesen. Welcher Wind ihm entgegenweht, durfte er letzte in einer Diskussionsveranstaltung im Fernsehen erleben, bei der er sein Publikum nicht gewinnen konnte, im Gegenteil.

Die Kampagne der EU-Befürworter betreibt ein Geschäft mit der Angst. Schon der offizielle Name „Britain Stronger in Europe“, abgekürzt BSE, ist ein PR-Desaster. Wer dabei nicht sofort an Rinderwahnsinn denkt, muss wahrlich noch sehr jung sein. Die Litanei, was alles schlechter werde, wenn das Vereinigte Königreich die EU verlasse, muss sich im Laufe der Wochen abnutzen. Menschen wollen einfach nicht immer schlechte Nachrichten hören, sie fühlen sich davon ab einem bestimmten Punkt immunisiert oder abgestoßen, ganz unabhängig davon, ob die Analysen stimmen oder nicht.

Entscheidend für den Ausgang des Referendums wird die Mobilisierung der Unentschlossenen und der Jüngeren sein. Letztere, auch Easyjet-Generation genannt, sollen überproportional proeuropäisch eingestellt sein, aber nicht gerne zur Wahl gehen. Im schottischen Unabhängigkeitsreferendum 2014 ging aus dieser Bevölkerungsgruppe beispielsweise nur knapp die Hälfte zur Wahl, die durchschnittliche Wahlbeteiligung aber lag bei 84 Prozent. Labour könnte auch ein Mobilisierungsproblem haben. Offiziell steht die Partei ohne Wenn und Aber zur EU, sie hat aber mit Jeremy Corbyn zurzeit den euroskeptischsten Vorsitzenden seit langem. Die Partei musste ihn zum Jagen tragen. Letzte Woche hielt er eine proeuropäische Rede, nach der sich viele Zuhörer fragten, ob Corbyn denn nun für oder doch eher gegen die EU sei. Corbyn sagte, dass David Cameron eine größere Bedrohung als die EU sei, was ja noch nicht für die EU spricht und seine Unterstützer sicher nicht an die Wahlurnen treiben wird. Auch seine Argumentation, Großbritannien könne mit der EU mehr für Arbeitnehmerrechte, die Umwelt und Erneuerbare Energien erreichen als ohne sie, hört sich nicht gerade nach einer epochalen Entscheidung an. Sie entmündigt darüber hinaus die britischen Wähler, denen Corbyn die Durchsetzung einer solchen Politik im Umkehrschluss offensichtlich nicht zutraut.

Wie gespalten Großbritannien ist, ist durch das Referendum für die ganze Welt sichtbar geworden. Diesen Zustand teil das Land mit vielen europäischen Staaten und ist Anzeichen einer tiefgreifenden allgemeinen Krise. Dass die EU diese Krise unverändert übersteht könnte, sollte niemand leichtfertig glauben.

Christoph Nick
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