Es ist ein Schlüsseltext zur Sekundarschulreform, den das Erziehungsministerium den Schulpartnern zur Begutachtung bis Anfang April vorgelegt hat. Das Paket beinhaltet Ausführungsbestimmungen zu Kernfragen wie der Versetzung, Disziplin, der Schulentwicklung und der Schülerbetreuung. Unter anderem regelt das Papier die Aufgaben des – umstrittenen – Tutors: Dieser soll den Schüler begleiten und ihm und seinen Eltern im persönlichen Gespräch regelmäßig Rückmeldung über seine Leistungen geben. Er soll ihm auch bei seinem Ausbildungsprojekt helfen. Was Eltern begrüßen dürften, weil es eine engere Betreuung ihres Kindes bedeutet (wobei es jeder Schule überlassen bleibt, ihr Förderangebot im Detail selbst zu definieren), dürfte bei den Lehrergewerkschaften Protest hervorrufen. Schließlich haben sich Lehrer bereits öffentlich gegen das Tutorat ausgesprochen und seine Notwendigkeit bestritten.
Für mehr Aufmerksamkeit könnte aber ein anderes Thema sorgen: die Versetzung. Jahrelang hatten Lehrer angeblich zu großzügige Promotionskriterien kritisiert. Sollte der vorliegende Vorschlag angenommen werden, wäre es damit vorbei: Schlechte Noten in den Sprachen oder in der Mathematik in den unteren Klassen des Sekundarunterrichts könnten nicht mehr durch gute Noten in anderen Fächern ausgeglichen werden. Die Kompensa-tionsmöglichkeit wird drastisch reduziert: Insgesamt darf ein Schüler der 6e und der 5e nur noch eine ungenügende Note in einem Nebenfach ausgleichen, vorausgesetzt seine Durchschnittsnote in den Nebenfächern beträgt mindestens 38 Punkte. Im oberen Zyklus dürfen zwei ungenügende Noten ausgeglichen werden, jeweils aus einer der drei neuen Fächergruppen (Langues et Mathé, Culture générale, Spécialisation). Die Durchschnittsnote muss dann 38, in der Spezialisation sogar 42 Punkte betragen, was bei der geringen Anzahl an Fächern ein anspruchsvoller Durchschnitt ist.
Die 60-Punkte-Bewertung bleibt, anders als in der Grundschule, wird aber in den unteren Klassen durch eine kompetenzorientierte schriftliche Bewertung ergänzt. Das Complément au bulletin wird damit in die Zensur integriert. Das klingt nicht nur kompliziert, sondern ist es auch. Denn künftig muss ein Schüler für die Versetzung in den unteren Klassen des Classique und des Technique 30 Punkte haben oder, sollte er das nicht geschafft haben, die Kompetenzsockel in mindestens drei von vier Kompetenzbereichen erreicht haben (bei den Sprachen sind das Lesen, Textverständnis, Hören und Schreiben). Diese parallele Benotung soll es den Lehrern ermöglichen, die Leistungen ihrer Schüler differenzierter zu bewerten. Im vorletzten Schuljahr, der 2e, fließt zudem die Note der Facharbeit Travail personnel in die Note mit ein.
Weil das Ministerium den Anteil der Klassenwiederholer reduzieren will, werden auch dort die Kriterien deutlich verschärft: Die Entscheidung, eine Klasse zu wiederholen, obläge dem Conseil de classe – der Protest der Eltern dürfte hier vorprogrammiert sein. Wenn ein Schüler die Klasse doch wiederholen darf, muss er einen Vertrag unterschreiben, der genau definieren soll, welche Lernziele konkret für seine Ehrenrunde anstehen. Lediglich in der 7e erfolgt die Versetzung automatisch – eine weitere Regelung, gegen die die Gewerkschaften Sturm laufen.
Bei dem Widerstand dürfte es nicht bleiben. Möglicherweise reihen sich schon bald die Eltern in den Protest ein. Denn nach der Lektüre der recht komplizierten neuen Versetzungskriterien bleibt eigentlich vor allem ein Eindruck zurück: Wer wird es künftig überhaupt in und durch den Classique schaffen? Derzeit werden rund 38 Prozent der Schüler in den klassischen Sekundarschulunterricht orientiert. Am Dienstag hatte Erziehungsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) auch die Kriterien für die Orientierung nach dem vierten Zyklus, also der sechsten Grundschulklasse vorgelegt. Dort sind die Punkte abgeschafft und die Versetzung erfolgt auf Grundlage so genannter Bilans und eines verbindlichen Avis d’orientation durch einen aus Klassenlehrer, Lehrer aus EST und ES sowie Inspektor bestehenden Orientierungsausschuss. Als Faustregel gilt: Wer die Kompetenzsockel erreicht hat, wird in die technische Sekundarstufe orientiert, wer die fortgeschrittenen Kompetenzsockel erreicht, kommt in den Classique. Rechnet man die reduzierten Kompensationsmöglichkeiten und die strengeren Auflagen bei der Klassenwiederholung im Classique hinzu, so könnten künftig – theoretisch – weniger Schüler im Classique ihren Abschluss machen als zuvor nach dem alten System. Offen will das zwar im Ministerium niemand kommentieren, die neue Bewertung wird vielmehr als „Versachlichung der Evaluation“ gerechtfertigt.
Noch etwas aber untermauert den Eindruck, dass der Zugang zum klassischen Abitur mit den neuen Versetzungskriterien eher erschwert wird: Trotz des Versprechens differenzierte Sprachniveaus einzuführen, um andere Fähigkeiten als die sprachlichen stärker zu honorieren, hält das Ministerium weiter daran fest, dass Schüler im Classique beide Sprachen, Deutsch und Französisch, sowie ab 6e Englisch, zum Weiterkommen sehr gut können müssen. Noch immer aber wiegt das Schriftliche im Classique viel stärker. Was im Endeffekt dazu führen dürfte, dass romanophone Kinder weiterhin an ihren schriftlichen Leistungen im Deutschen scheitern werden. Darüber dürften auch verbesserte Übergänge vom Technique in den Classique kaum hinwegtrösten. Wie aber passt das zum sozialistischen Versprechen von mehr Bildungsgerechtigkeit?