Es war eine Blitz- und eine Witzumfrage, die Regierungsberater Pierre Reding in seiner Festrede zum zehnjährigen Jubiläum der Modellschule Eis Schoul am Samstag in der Abtei Neumünster startete: „Habt Ihr Eure Lehrer gern?“, fragte er die auf der Bühne versammelten Kinder aus dem Zyklus 4. Alle Hände schnellten in die Höhe. „Geht ihr gern in die Schule?“ Wieder wurden Hände emporgestreckt, dieses Mal etwas zögerlicher, verbunden mit verunsicherten Blicken Richtung Podium. Der ehemalige Schulinspektor witzelte über die Repräsentativität seines Meinungsbilds und erlöste die Kinder dann mit einem Lachen.
Redings Auftritt war ein lustiger Kontrapunkt zum anonsten positiven Eindruck der Beiträge der Schüler, Lehrer und Eltern zur Geburtstagsfeier: Die Gemeinschaft ist zusammengewachsen, pädagogische Konzept und Lehrpersonal bekommen Respekt und viel Anerkennung. Besonders dankbar fällt das Lob jener Eltern aus, deren Kinder besondere Förderung benötigen, sei es, weil sie schnell gelangweilt sind, eine Behinderung haben oder sonst einem herkömmlichen Unterricht schlecht folgen könnten.
Den gibt es in Eis Schoul eh nicht. Die Schule ist eine der wenigen Grundschulen, die seit der Gründung im Jahr 2008 inklusiv unterrichtet, das heißt, Kinder mit besonderen Bedürfnissen und ohne zusammen in einer Klasse. Streng genommen, passt nicht einmal diese Unterscheidung: Jedes Kind soll nach seinem Lerntempo gefördert werden, ist die Philosophie, die mit Wochenplan und differenziertem Unterricht in die Praxis umgesetzt wird. Dass das nicht einfach ist, wissen die Pioniere selbst am besten: Die Schule hatte Startschwierigkeiten, gerade bei der Diagnostik und Begleitung betreuungsintensiver Kindern.
Inzwischen gibt es eine schulinterne Commission d’inclusion scolaire und ein Team von Ergotherapeuten, Logopäden, Erziehern, das eng mit den Lehrern zusammenarbeitet. Das inklusive Konzept steht auf festen Füßen, die Nachfrage ist acht- bis zehnmal so groß wie die Zahl der verfügbaren Plätze, und eigentlich könnte die Feierlaune nicht besser sein – wäre da nicht die geplante Reform. Als Einrichtung, die mit dem Anspruch einer Forschungsschule gestartet war, in der pädagogische Praxis und Recherche Hand in Hand gehen, hatte Eis Schoul zusätzliche Ressourcen und ein maßgeschneidertes Gesetz bekommen, das mit der Zeit von der Realität eingeholt wurde: Die Doppelbelastung durch Forschung und Unterricht stellte sich als zu ehrgeizig heraus. Heute ist die Schule Vorreiterin in Sachen Inklusion, aber eine Laborschule wie das deutsche Vorbild aus Bielefeld, von der es wegweisende pädagogische Forschungsarbeiten gibt, ist Eis Schoul nicht geworden.
Und das war vielleicht besser so: Als Schule, die als ehrgeiziges Reformprojekt gegründet wurde, kämpfte sie zunächst mit herben Rückschlägen: Von den Gründervätern und -müttern des Groupe luxembourgeois d’éducation nouvelle (Glen) ist nur Marc Hilger geblieben, der nach zehn Jahren das Amt des Schulpräsidenten zur nächsten Rentrée aufgeben wird. Wegen Kompetenzenstreitigkeiten und Überforderung liefen etliche Lehrer fort. Die Herausforderungen eines inklusiven Unterrichts sind nicht zu unterschätzen: Enthusiasmus und Idealismus allein reichen nicht. Wer Schüler im Klassenverband differenzieren will, wie es das Grundschulgesetz übrigens für alle öffentlichen Schulen im Land vorschreibt, braucht didaktisch-methodisches Rüstzeug, muss wissen, wie sie oder er den Stoff für unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten aufbereitet; Methoden der Differenzierung waren in Lehreraus- und -weiterbildung eher wenig präsent. Netzwerken, Teamgeist und Kommunikationstalent sind gefragt: Denn in der Ganztagsschule sprechen sich Lehrer und Erzieher ab, sind Eltern in entwicklerische Prozesse eingebunden, mitunter, etwa wenn es um die Schulcharta geht, neben den Schülern eine der treibenden Kräfte.
Eben diese Eigenschaften wollte die Schule mit einem neuen Gesetz gesichert sehen – und ihrer Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass Regierungsberater Pierre Reding nun an einem Text feilt. Ein Entwurf von 2014 sah eine Anpassung ans Schulgesetz von 2009 vor, las sich aber als Versuch, Kernelemente der Pilotschule anzutasten. Das Schulkomitee sollte nicht mehr paritätisch von Lehrern und Erziehern besetzt sein, Eltern sollten das Essensangebot per Chèques-service mitfinanzieren. Weil der Text schlecht geschrieben war, fiel er beim Staatsrat durch, das Ministerium musste nachbessern – und tat dies, ohne die Schule vorher zu konsultieren. Die Änderungen waren teils komplett gestrichene Passagen, so dass beispielsweise die besondere basisdemokratische Struktur in Frage stand. Das rief im Frühjahr 2016 erboste Eltern auf den Plan, die, als sie von der zuständigen Parlamentskommission nicht gehört wurden, bei den Fraktionen anklopften. Nach einem zweiten kritischen Staatsratsgutachten liegt das Vorhaben auf Eis. So steht die Schule vor der kuriosen Situation, dass sie so gut funktioniert wie nie, ihre rechtliche Situation jedoch nach wie vor ungeklärt ist.
Regierungsberater Pierre Reding beteuert, ihm liege daran, offene Fragen „so schnell wie möglich“ zu klären. Ein neuer Anlauf wurde, dieses Mal unter Einbindung der Schule, genommen. Im neuen Entwurf, der das inklusive Konzept sowie eine Mindest-Aufnahmequote von Schülern mit besonderen Förderbedarf von zehn Prozent festschreibt, ist die finanzielle Autonomie und die Unterstützung durch ein schulinternes Team von Spezialisten vorgesehen. Auch die basisdemkratische Organisation soll bleiben.
Doch selbst wenn dieser Entwurf im Parlament Zustimmung findet (was vor Ende der Legislaturperiode kaum der Fall sein dürfte): Die Geschichte rüttel auf, wirft sie doch ein bezeichnendes Licht auf den staatlichen Umgang mit schulischen Pilotprojekten. Der Staatsrat hatte mit Verweis auf die Verfassung betont, Schulorganisatorisches gehöre grundsätzlich per Gesetz geregelt. Dies für Versuchsschulen zu tun, fällt dem Ministerium und den Juristen offenbar schwer. Eigentlich wäre Reding, das sagte er dem Land auf Nachfrage, ein Rahmengesetz für Versuchsschulen am liebsten: um anderen Projekten, die mit alternativen pädagogischen Methoden als im Grundschulgesetz beschrieben, arbeiten wollen oder sich vielleicht in Zukunft gründen, nicht jedes Mal ein Gesetz maßschneidern zu müssen. Bisher haben die Juristen keinen Weg ausgetüftelt, wie das gehen kann. Der aktuell diskutierte Entwurf ist ebenfalls ein Sonder-Schulgesetz.
Dass die juristischen Unklarheiten keine Petitesse sind, zeigt sich an der Jean-Jaurès-Schule: Die Escher Ganztagsschule baut wie Eis Schoul auf inklusivem differenzierenden Unterricht auf. Außerdem sieht sie eine enge Ab- und Mitbestimmung aller Schulakteure vor – was, streng betrachtet, mit dem Schulgesetz kollidieren könne, das mindestens zwei Drittel Lehrer im Schulkomitee vorschreibt.
Wie stark der Konformitätsdruck für Schulen ist, die etwas anderes ausprobieren, wie wenig etabliert eine Schulpolitik ist, die pädagogische Innovation nicht bloß anregt und sich dann selbst überlässt, sondern sie gezielt begleitet und fördert, zeigt sich auch daran, dass die meisten Modellversuche sogar Jahre nach Start nicht auf Wirkungsweise und Wirksamkeit überprüft werden, obwohl sie als Versuchsschulen gelten. Eis Schoul wurde wiederholt von Experten begutachtet, aber eine solide Studie, die Aufschluss darüber gibt, welche Praktiken sich wie auf die Schüler auswirken, liegt bis heute nicht vor. Selbst da, wo es Belege gibt, dass Neuerungen den Unterricht verbessern, wie bei den Proci-Schulen, sind Argwohn und Missgunst oft groß, so dass der Erfolg ignoriert wird – bei anderen Lehrern und vor allem von Gewerkschaften, die Mehraufwand befürchten,
Der Anpassungsdruck besteht erst recht im legislativen „Normalisierungs“-Prozess: Da stehen dann plötzlich pädagogische Leitideen in Frage, die Identität und Daseinsberichtigung der Schule ausmach(t)en. So geschehen beim Gesetz zum Lycée Ermesinde, dessen Motivenbericht in wirtschaftsliberalem Jargon daherkommt und wo Noten kein Tabu mehr scheinen. Dabei war die formative, prozessorientierte Bewertung der Schüler aufgrund von Portfolios, Projektarbeit und einer von schulinternen und externen Experten gesetzten Jury einst Herzstück der damals Neie Lycée genannten Sekundar-Versuchsschule. Was die Autoren zu dem Paradigmenwechsel veranlasst, lässt sich für Außenstehende im Text selbst nicht nachvollziehen.
Nicht selten sind regulatorische „Anpassungen“ eng verbunden mit Aspekten zum Personalstatut, also mit direkten oder indirekten Kosten. Ausnahmen von der Regel, die im Rahmen der Pilotphase gewährt wurden, sollen beschnitten werden. Mag sein, dass es dafür gute pädagogische Gründe gibt, schließlich ist das Ziel von Schulentwicklung, Praktiken zu verbessern und dauerhaft im Schulalltag umzusetzen. Aber manche Änderungen kosten eben. Bei der Vorstellung des Entwurfs von 2015 hatten Bidungsminister Claude Meisch und sein Beamter noch betont, Eis Schoul habe zwei bis drei Mal so viele Freistellungen wie herkömmliche Grundschulen. Bildungsexperten betonen seit langem, dass Inklusion, zu der Luxemburg laut UN-Behindertenrechtskonvention ohnehin verpflichtet ist, nicht zum Nulltarif zu haben ist. Das hat Meisch inzwischen verstanden und angekündigt, 150 zusätzliche Spezialkräfte einzustellen.
Auf jeden Fall sollten Ressourcen und Reformansätze, wenn der Staat denn wirklich mehr alternative Schulangebote will, nicht ohne Rücksprache mit der jeweiligen Einrichtung in Frage gestellt werden, wie bei Eis Schoul geschehen. Innovation gehört professionell begleitet. Bis heute gibt es kein Netzwerk, wo Erfahrungen mit Alternativen systematisch ausgetauscht und vom Ministerium ausgewertet werden. Übrigens bestehen an der Uni Luxemburg Pläne, eine wissenschaftlich begleitete Laborschule einzurichten. Sollte jemals ein Rahmengesetz kommen, könnte sie vielleicht das Tageslicht erblicken. So aber, bei der erheblichen Rechts- und Ressourcenunsicherheit, mit der sich Schulen wie Eis Schoul oder die Jean-Jaurès in Esch alle Jahre wieder konfrontiert sehen, ist die unterschwellige Botschaft nicht innovationsfreundlich. Sondern das glatte Gegenteil.