„Demokratische Schule“, so beschreibt Marjo Kyllönen das neueste Bildungsprojekt in Finnland: „Es ist eine Schule ohne Fächer, ohne Lehrplan, ohne Klassenverband, die freies, autonomes Lernen in Eigenverantwortung fördert und bedingt.“ Kyllönen ist Leiterin der innovativen Weiterentwicklung von Bildung in Helsinki. Allein, dass es eine solche Stelle in der finnischen Hauptstadt gibt, zeigt, wie ernst es dem Land um die Zukunft der Bildung ist. Seit zwei Jahren nun unterhält die Stadt Helsinki diese Demokratische Schule, um Bildungsmodelle für den gesellschaftlichen Wandel zu etablieren. Kyllönen dazu in einer Dokumentation des Fernsehsenders Arte: „Die Schule und das Bildungssystem in Finnland haben zwei Aufgaben. Zum einen, die Kinder zu mündigen Bürgern des Landes zu machen. Zum anderen, den Schülerinnen und Schülern Kompetenzen für den Arbeitsmarkt der Zukunft zu vermitteln.“
Sie sieht dabei zwei Fragestellungen als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen: Wo liegt der tatsächliche Bildungsbedarf der Zukunft? Und: Braucht es in einer Schule tatsächlich Unterrichtsfächer? Letztere verneint sie umgehend, denn auch das Leben sei nicht in Fächer eingeteilt. Auch der herkömmliche Klassenverband wird an der Demokratischen Schule aufgelöst. Stattdessen wird der individuelle Schüler in den Mittelpunkt der Bildungsvermittlung gestellt. Wichtigstes Ziel ist es, den Heranwachsenden Kreativität, Problemlösungskompetenz, Querdenken, interdisziplinäre Herangehensweise an Fragestellungen und ganzheitliche Betrachtungen der Fragestellungen zu vermitteln. Dazu wird ein individueller Lernprozess entwickelt. Das Niveau der Schülerinnen und Schüler wird zunächst eher kommentiert, denn benotet, ab der siebten Klasse ausschließlich benotet. In den Lerngruppen der entsprechenden Leistungsstufen gibt es in der Regel 17 bis 20 Schülerinnen und Schüler – sowie zwei Lehrer. Die Lerngruppen werden von den beiden Lehrkräften immer wieder neu aufgeteilt in unterschiedlichen Größen, um eine individuellere Förderung der einzelnen Kinder zu ermöglichen. Darüber tragen auch weiche Faktoren zur Ausgestaltung der Demokratischen Schule bei, diese beginnen bei der Einrichtung der Räume, setzen den Hauptaugenmerk auf Digitalisierung und bauen auf ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Eltern und Familien der Schüler. Finnland setzt bereits in den Vorschulen auf die konsequente Förderung der Kinder, indem etwa Pädagogen eingestellt werden, die des Finnischen nicht mächtig sind. „So dürfen die Kinder nicht nur eine Fremdsprache lernen, sondern sie müssen diese auch praktisch anwenden, um etwa mit einem Betreuer aus Deutschland kommunizieren zu können“, so Conni Kay, der an einer Vorschule in Turku arbeitete.
Die Bildungsmaximen an der Schule in Helsinki sind Gleichheit und Gerechtigkeit. Alle Kinder aus einer Nachbarschaft werden unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gemeinsam unterrichtet. Priorität hat auch die Vermittlung von Allgemeinbildung, die dazu beitragen soll, Bürgerinnen und Bürger der Zukunft eine neue, eigene Identität zu vermitteln. „Dabei setzen wir auf die natürliche, gegebene Neugierde der Kinder“, sagt Marjo Kyllönen. Diese sei schließlich bei allen Kindern gleich. Dem widerspricht die französische Soziologin Joanie Cayouette-Rembliere, die sich in ihrem Buch L’école qui classe mit dem französischen Bildungssystem auseinandersetzt. Es sei ein Irrtum, kindliche Neugierde als bei allen Kindern gleich gegeben anzusehen. Sie stellt sich gegen das neo-behaviouristische Ausgangsmodell von Kyllönen. Schließlich sei die Familie ein wichtiger Faktor in der Förderung von Neugierde als Bildungsmotive. Bildungsferne von Eltern lasse die Neugierde als Triebfeder zu Bildung und Wissen erlahmen, so Cayouette-Rembliere. „Neugierde muss erarbeitet werden“, so die Soziologien, und: „Keine Neugierde ist kein Mangel und keine verpasste Bildungschance.“
Doch beide sind sich einig darin, dass die Bildungsreformen und Schulexperimente der Siebziger- und Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts das Lernen und die Lehre grundlegend verändert hätten. So sei es bis in die Siebzigerjahre durchaus möglich gewesen, als Schulabbrecher einen Job zu finden, wenn auch ohne große Karrieremöglichkeiten, aber dennoch mit auskömmlichen Lebensunterhalt. Doch seit den damaligen Reformen, die auch in Skandinavien ihren Ausgang hatten, sei ein Schulabschluss Voraussetzung für den weiteren Lebensweg – und mehr noch, beeinflusse der gewählte Schultyp die weitere Biografie der Schülerinnen und Schüler. Die Soziologin kommt zum Schluss, dass das derzeitige französische Bildungssystem dringende Reformen benötige, da es soziale Ungleichheit schaffe und zementiere. Die pädagogische Praxis müsse sich der gesellschaftlichen und ökonomischen Realität anpassen. Die Frage, wie Lehrer unterrichten und Schüler lernen, brauche neue Antworten. Doch sowohl Kyllönen als auch Cayouette-Rembliere bemerken bei ihren Betrachtungen, dass Bildungsfragen zunehmend an die Politik delegiert werden, wo es doch gesellschaftliche Fragen und Herausforderungen seien, die umfassender gelöst werden müssten – und nicht nur delegiert werden dürfe.