Mit Alfred Jarrys absurdem Theater Ubu Roi (Uraufführung 1896) beginnt die Genese eines Begriffs, der stellvertretend für sämtliche Groteske, Verrücktheit und Verdrehtheit steht. Ubu geht zurück auf eine Schülertravestie aus dem bretonischen Rennes über den schrägen Physiklehrer Félix Hébert und hat es schon zum eigenen etablierten adjektivischen Derivat „ubuesque“ gebracht. Darüber hinaus bedarf es etymologischer Klärung im Sinne des Begriffs „Cocó“, der zum einen auf eine alles Böse verkörpernde Kinderschreckfigur im hispanisch-portugiesischen Raum zurückgeht, zum anderen jedoch in seiner Verbindung mit dem Wort „Chanël“ auf kostspielige Haute Couture verweist. „Cocóóó Chanël“ wäre demnach in seiner gedehnten Ableitung eine metaphorische Komposition für die Abart der politischen Macht des großen Geldes.
Genau in diese Kerbe schlägt auch Krëscht Clement mit seiner Übersetzung von Jarrys Vorlage. Papa Uppert oder Ubu pirscht sich mit seiner Gattin und dem Offizier Käpt’n Trottersteen an den Thron von Labberbuerg heran, zweifellos in der Absicht, den König und dessen Familie zu stürzen. Nach Abschluss dieses politischen Coups beginnen die geschassten Herrscher jedoch ihrerseits, die neuen Potentaten auszuschalten und verlorene Ämter abermals zu bekleiden.
Es riecht in dieser Blitzwiedergabe nach Shakespeare: Machtgier, politische und psychologische Intrigen, das ganze versüßt mit Slapstick aus der Schublade des Volkstheaters, verbittert mit körperlicher Gewalt, vertieft durch nachdenklich gestimmte Dia- und Monologe. Nicht ohne Grund erinnert das Programmheft an die perfide shakespeaere’sche Figur Lady Macbeth, die auch bei Clement mit ihrem erschütternden Monolog „Come, you spirits“ Achtung findet. Doch die elisabethanische Verquickung von charakterlicher Abart und Zugang zu höchsten Ämtern ist nicht das einzige Thema von Clements Bühnenwerk Cocóóó Chanël: Den Ubu als Kinnik, das in seiner Inszenierung von Anne Simon am 24. Mai Premiere im TNL feierte.
Simon nagelt die Handlung dort fest, wo scheinbar jeder noch so charakterliche „Mëllert“ in der Lage ist, nach den Schaltzentralen der Macht zu greifen. Es bedarf hier lediglich einer gehörigen Portion Machtgeilheit und jedweder Immunität gegen Moral und Ethik. Das Regieren wird nicht ohne Grund als Gewirr von Durchfeiern, wahnwitzigem Verprassen und derb pornografischer Gewalt inszeniert. Hier werden dunkle Urinstinkte mit dem verbunden, worüber die Despoten verfügen: Sie tun, weil sie können. „Man hat Gewalt, also hat man Recht“: Diese mephistophelische Grundthese verhindert den einzigen Zweck, den Macht rechtfertigt. Sie verhindert die Aussicht auf Politik im Sinne des Volkes. Ihre Ausübung beschränkt sich bei diesem Ubu auf reinen Selbstzweck, reine Willkür, ideologiefrei. Das unterscheidet Ubu von vielen tragischen Helden des Shakespeare-Dramas.
Folterorgien, Enteignung, Luxusexzess. Entgegen einer ersten Lesart gibt es bei Simon eigentlich keine Sexszenen, sondern kruden Porno als Kraftablass, Gewalt als buchstäbliche Masturbationsvorlage: Macht macht geil. Das artet inmitten verquerer Patriotismus-Sprüche und strategischer Absprachen bisweilen derart aus, dass Ubu mit erigiertem Anschnallpenis als Symbol für seine niedere Kraft auftritt. Überhaupt erinnert der Wechsel höfischer Insignien (royale Gewänder und Krone) mit Netz-Shirts und nackter Haut an das Wechselverhältnis von Machtgier und Machtausübung.
Die Darsteller spitzen den grotesken Charakter dieses völlig pervertierten Spiels durch Mimik und Körperlichkeit zu: Lächerliche Drohgebärden, körperlicher Exzess und die teils archaische, teils jugendsprachliche luxemburgische Lexik ziehen die an sich schon wuchtige Vorlage ins Extreme. Steve Karier als Titelheld würgt seine Zeilen heraus, kann vor Kraft kaum laufen, endet trotzdem in einem nahezu lear’schen Wahnsinn. Marc Baum fühlt sich im Luxemburgischen sichtlich mehr zu Hause als in fremdsprachigen Produktionen, Pitt Simon und Sophie Langevin genießen das Groteske-Potenzial ihrer Rollen. Die kurvige Anouk Wagner verstärkt als Lady-Macbeth-Domina-Verschnitt das zentrale Motiv der Inszenierung: In Zeiten der Orbáns, Trumps und Gaulands inszeniert Anne Simon mit Cocóóó Chanël einen wahnwitzigen, völlig überdrehten Politporno.