„Als ich einmal so durch die innere Stadt strich, stieß ich plötzlich auf eine Erscheinung in langem Kaftan mit schwarzen Locken. Ist dies auch ein Jude? war mein erster Gedanke.“ So erzählt der aus der Provinz stammende Adolf Hitler aus seinen „Wiener Lehr- und Leidensjahre[n]“ in Mein Kampf (S. 56) von seiner angeblichen Schlüsselbegegnung mit einem „Volke, das schon äußerlich eine Ähnlichkeit mit dem deutschen nicht mehr besaß“.
Der Antisemitismus von heute ist der Antiislamismus und sein langer Kaftan die lange Burka. Seit der verstärkten Ankunft von Kriegsflüchtlingen aus Syrien und dem Irak im vergangenen Herbst rufen CSV-, ADR- und rechte LSAP-Politiker sowie verschiedene Medien mit neuem Eifer zum Kampf gegen islamische Trachten auf – vor allem gegen solche, die hierzulande vor allem vom Hörensagen bekannt sind. Deshalb ändert sich die Bezeichnung jedes Mal mit der außenpolitischen Konjunktur: Nach dem Sturz des von den USA ausgehaltenen Schah-Regimes im Iran ging meist vom Tschador die Rede. Seit dem amerikanischen Einmarsch in Afghanistan wurde der Tschador dann Burka genannt, auch wenn meist der Nikab gemeint ist.
Obwohl sich einige antiklerikale Vereine schon 2003 darüber beschwerten, dass nicht nur Schüler während des Unterrichts Schirmmützen, sondern Schülerinnen auch Kopftücher tragen dürfen, war der Kampf gegen den Ganzkörperschleier lange das Steckenpferd des gerne als katholischer Integralist auftretenden ADR-Abgeordneten Fernand Kartheiser. Er hatte in einer parlamentarischen Anfrage im Mai 2011 Alarm geschlagen, dass in zwei Südgemeinden Schulkinder sich vor Frauen fürchteten, die verschleiert ihre Kinder zur Schule brachten. (LSAP-Erziehungsministerin Mady Delvaux-Stehres antwortete, die Lehrer würden den Kindern schon erklären, dass das Mütter wie andere auch seien.)
Mit einer parlamentarischen Anfrage wollten die christlichen Abgeordneten Diane Adehm und Gilles Roth im April 2015 wissen, ob Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst religiöse Zeichen im allgemeinen und Schleier im besonderen tragen dürfen. (LSAP-Innenminister Dan Kersch antwortete, es gebe bisher weder eine bestimmte Regelung, noch irgendwelche Probleme.) Im November wollte Fernand Kartheiser dann wissen, ob verschleierte Frauen „Erleichterungen bei den Sicherheitskontrollen auf dem Findel“ genössen. (LSAP-Sicherheitsminister Etienne Schneider erklärte, dass auch die Identität verschleierter Frauen respektvoll kontrolliert werde.)
Wohl enttäuscht darüber, dass die Regierung sich weigerte, gesellschaftliche Probleme zu schaffen, wo keine sind, hatte Fernand Kartheiser im Juli 2014 im Parlament einen Gesetzesvorschlag hinterlegt, der das französische Gesetz von 2010 übernahm und im ersten Artikel dekretiert: „Nul ne peut, dans l’espace public, porter une tenue destinée à dissimuler son visage, en tout ou en partie.“ Bei Zuwiderhandlung soll eine Geldbuße von 25 bis 250 Euro vorgesehen sein, Ausnahmen erlaubt er für den Karneval, berufliche, medizinische, sportliche und künstlerische Zwecke. Bemerkenswerterweise gab der Autor im Motivenbericht seines Vorschlags keinerlei Erklärung dafür, weshalb er verschiedene Kleidungsstücke durch Gesetz verbieten wollte – was der Staatsrat in seinem skeptischen Gutachten für das Mindeste bei einer derart schwerwiegenden Beschneidung der Persönlichkeitsrechte hielt.
Im November vergangenen Jahres brachten die CSV-Abgeordneten Laurent Mosar und Gilles Roth dann ebenfalls einen Gesetzesvorschlag ein, dessen erster Artikel in Anlehnung an das belgische Gesetz lautete: „Sera puni d’une amende de 25 euros à 250 euros le fait de porter dans les lieux publics une tenue destinée à dissimuler le visage.“ Sie begründeten das von ihnen angestrebte Verbot damit, dass es „le socle minimal d’exigences réciproques nécessaires à la vie dans notre société“ schützen müsse. Außerdem solle es „la protection des droits et libertés d’autrui, c’est-à-dire la défense du respect d’exigences minimales de la vie en société“ gewährleisten, wobei sie nicht die Rechte und Freiheiten islamischer Frauen, sondern katholischer Gaffer meinten.
Fünf Tage nach den Terroranschlägen in Paris im November vergangenen Jahres wollte LSAP-Präsident Claude Haagen verschleierte Frauen als Staatsfeindinnen entblößen und forderte im Tageblatt ein „gesetzliches Vermummungsverbot“. Auch LSAP-Arbeitsminister Nicolas Schmit lieferte den Schleiergegnern am 14. April über Twitter Argumentationshilfe: „La burqa n’est pas compatible avec nos valeurs. Elle dégrade la dignité +égalité des femmes. Il faut l’interdire dans la clarté.“ Endlich hatte ein Minister es deutlich formuliert: Eine Ganzkörperverschleierung verstößt gegen unsere Werte. Unter Berufung auf Nicolas Schmit konnte Gilles Roth am 19. April und noch einmal textidentisch am 28. April vor dem Parlament betonen: „Für die CSV steht die Vermummung des Gesichts im krassen Gegensatz zu den Werten, die unsere Gesellschaft ausmachen, Werte von Offenheit, und Transparenz. In unseren Breitengraden schauen sich die Leute in die Augen, ins Gesicht, wenn sie miteinander kommunizieren. Eine integrale Vermummung des Gesichtes entspricht nicht den Werten, nicht den Gewohnheiten und auch nicht den Traditionen, die unser gesellschaftliches Miteinander regeln.“
Nun haben unsere Werte bekanntlich den Vorteil, dass sie nirgends geschrieben stehen (d’Land, 18.3.16), aber bis dahin wäre niemand spontan auf die Idee gekommen, als einen unserer Werte die Fähigkeit aufzuzählen, sich ins Gesicht zu sehen. Nach seiner mündlichen Anfrage 14 Tage zuvor reichte Gilles Roth während der Debatten zur Lage der Nation eine von der ADR unterstützte Motion ein, in der ein Gesetz zum Verbot der Ganzkörperverschleierung gefordert wurde. Die Motion, die vor allem die Regierung in Widerspruch zu Minister Nicolas Schmit bringen sollte, wurde abgelehnt.
Vergangene Woche erhielten die rechten Schleiergegner Unterstützung vom Luxemburger Wort und von RTL, die von TNS Ilres 1 024 Personen mehr als suggestiv fragen ließen, ob sie Nicolas Schmits Behauptung zustimmten: „La burqa n’est pas compatible avec nos valeurs. Elle dégrade la dignité des femmes. Il faut interdire la burqa dans la clarté.“ 80 Prozent der Befragten stimmten selbstverständlich zu – wohl genau so viele, wie der Behauptung zugestimmt hätten, dass die Freiheit der höchste unserer Werte sei und der Staat seinen Bürgern deshalb nicht vorzuschreiben habe, was sie anziehen sollten.
In Luxemburg, Esch-Alzette und anderen Gemeinden verbieten die Polizeireglemente seit einigen Jahren, das Gesicht in der Öffentlichkeit zu verbergen. Diese Verbote zielten aber anfänglich nicht auf verschleierte Frauen ab, sondern übernahmen das 1985 in Deutschland eingeführte „Vermummungsverbot“ für Teilnehmer öffentlicher Kundgebungen, das der Polizei nicht zuletzt den Einsatz von Tränengas und die Videoüberwachung erleichtert. Nun drängen CSV, ADR und die LSAP unter dem Vorwand der Rechtssicherheit die Regierung vor sich her, damit sie ein „gesetzliches Burka-Verbot“ einführt. Noch beruft sich der grüne Justizminister Félix Braz bei der Beantwortung aller Anfragen auf seinen Vorgänger François Biltgen (CSV) und die Gemeindeautonomie, doch bei der LSAP knicken die „députés-maires“ einer nach dem anderen ein, so dass die Regierung mit einem Umweg über das geplante Gesetz über Ordnungswidrigkeiten und Gemeindeaufseher doch noch ein landesweites Verbot der Ganzkörperverschleierung einführen will.
So ändern die Befürworter eines „Burka-Gesetzes“ ihre Begründung über die Jahre: Zuerst ging es um die öffentlichen Sicherheit und Identitätskontrollen, dann um die Verteidigung unserer Werte, zu denen die Transparenz und die Würde der Frauen gehören, und nun soll über die Gemeindegrenzen hinweg Rechtssicherheit geschaffen werden. Wobei spätestens Luxleaks zeigten, dass Transparenz und Offenheit nicht unbedingt zu den Luxemburger Werten gehören. Die Würde der Frauen war bisher auch keine Priorität stramm rechter Antifeministen und eines Jahrhunderts patriarchalischer CSV-Familienpolitik.
Die Verteidiger der Würde der Frau halten es nicht für nötig, verschleierten Frauen irgendwelche Rechte zuzugestehen, ihr Recht auf Selbstbestimmung gegen einen Eingriff in ihre Privatsphäre abzuwägen. Damit verhalten sie sich so autoritär und paternalistisch wie die Ehemänner und Brüder, die ihrer Meinung nach Frauen dazu zwingen, sich zu verschleiern. Es interessiert sie nicht, ob die von ihnen angestrebte Kriminalisierung nicht die Lage der Frauen erschwert. Der wirkliche Fehler einer Handvoll glücklicher oder unglücklicher Frauen – niemand hat sie gefragt –, dürfte folglich sein, dass sie keine High net worth individuals sind und sich keine von Laurent Mosar und Gilles Roth als Luxemburger Werte geförderten Sukuk, keine islamischen Wertpapiere, leisten können.
Doch selbst der nimmermüde Fernand Kartheiser musste im Motivenbericht seines Gesetzesvorschlags zugeben, dass die Ganzkörperverschleierung „un phénomène marginal“ sei. Laut Regierungsangaben gibt es hierzulande ein halbes oder ein Dutzend Frauen, die einen Ganzkörperschleier tragen, und es bleibt offen, ob ihre Zahl höher als die Zahl der mit ihrer Observation beschäftigten Informanten des Nachrichtendienstes ist. Begibt man sich aber in die Logik der Schleiergegner, kann man sich schwerlich vorstellen, dass ein halbes oder ein Dutzend mehr als diskrete Frauen die Werte und das gesellschaftliche Miteinander einer halben Million anderer Einwohner gefährden können. Folglich muss eine Wahnvorstellung dazu herhalten, ein gesellschaftliches Scheinproblem zu konstruieren, mit dem unter immer neuen Vorwänden rassistische Stimmungsmache gemacht werden kann. Damit rechte Politiker wieder einmal Fremdenangst schüren und sich als Verteidiger der nationalen Identität aufspielen können.