Irgendwann in den nächsten Monaten soll sie online gehen – die elektronische Patientenakte, oder das Dossier des soins partagé, wie es amtlich offiziell heißt. „Wir warten noch auf eine großherzogliche Verordnung, der vor allem die Datenschutzkommission grünes Licht geben muss, dann kann es losgehen“, sagt Hervé Barge, Chef der Agence e-Santé.
Die e-Patientenakte hat das Zeug dazu, ein Meilenstein in der Gesundheitsversorgung zu werden. Ab den Neunzigerjahren wurde immer wieder diskutiert, ob Luxemburg so etwas nicht eigentlich unbedingt brauche und wie man dahin gelangen könne (siehe „Chronik“, S. 12). Anfang 2005 kündigte der damalige LSAP-Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo an, es werde „eventuell“ ein „Dossier médical unique informatisé“ geben. Patientendaten, die in Krankenhäusern entstehen, würden mit solchen aus dem außerstationären Bereich verbunden. Kurz vorher war in Deutschland beschlossen worden, eine Karte mit Patientendaten einzuführen und ein Datennetz für das gesamte Gesundheitswesen aufzubauen. Österreich dagegen hatte sich auf eine „E-Card“ nicht als Datenträger, sondern lediglich als Zugangsschlüssel zu ganz verschiedenen digitalen Diensten im Gesundheitsbereich festgelegt.
Sich an Österreich orientieren zu wollen, sei aber „derart hochkomplex“, wie Di Bartolomeo im Herbst 2005 der Krankenkassen-Quadripartite berichtete, dass eine prinzipielle Entscheidung darüber wieder vertagt wurde. Erst als der Regierungrat im Herbst 2006 einen Plan d’action e-Santé annahm, tauchten darin eine elektronische Plattform für den Gesundheitsdatenaustausch und ein „Dossier patient“ als Vorhaben auf. Es dauerte jedoch drei weitere Jahre, bis das Gesundheitsministerium den Aktionsplan öffentlich machte. Grund für die Geheimniskrämerei waren die Kostenschätzungen im Text: In Deutschland rechne man mit einem Aufwand von 20 Euro pro Bürger. In Luxemburg dagegen müsse man von einem „Vielfachen von 20 Euro“ ausgehen, denn die meisten Kosten seien Fixkosten und unabhängig von der Größe eines Landes. Womöglich werde die Investition in das digitale Patientendossier 31 Millionen Euro verschlingen, prognostizierte der Aktionsplan, plus neun Millionen Euro Betriebskosten in den ersten vier Jahren.
Zum Glück für die DP-LSAP-Grünen-Regierung und ihren haushaltspolitischen Kurs der „neuen Generation“ wird das Dossier des soins partagé so teuer wahrscheinlich nicht werden. Nicht mal neun Euro pro Versicherten kämen die Investitionen zu stehen, hieß es im Januar; wobei mit „Versicherten“ nicht nur die ansässige Bevölkerung gemeint ist, sondern auch die Grenzpendler mit ihren Familien und deshalb insgesamt rund eine Dreiviertelmillion Menschen. „Später anzufangen als andere hat auch Vorteile, da kann man auf ausgereiftere Lösungen zurückgreifen“, bemerkt Mike Schwebag trocken, der das Gesundheitsministerium im Verwaltungsrat der e-Santé-Agentur vertritt. Die Agentur, ein 2011 gegründetes Groupement d’intérêt économique, das die CNS zu zwei Dritteln finanziert und der Staat zu einem Drittel, hatte Datenplattform und Patientendos-sier 2013 ausgeschrieben. Den Zuschlag erhielt ein Konsortium aus sechs Firmen und Institutionen unter der Führung des französischen e-Business-Unternehmens Sqli.
Die Erwartungen an das neue Instrument sind groß. „Endlich erhält ein Arzt Zugriff auf alle Krankenberichte eines Patienten, auf alle Labor-analysen, alle Röntgen- und Scannerresultate“, sagt Schwebag. Die Arbeit am Patienten werde besser. Doppeluntersuchungen würden vermieden, ist er überzeugt. Bei der CNS wiederum ist man hocherfreut, dass die Programmoberfläche der Patientenakte auch ein Modul für e-Billing, die elektronische Honorarabrechnung, erhalten soll: „200 Leute, ein gutes Drittel unseres Personals, sind mit der Erfassung von Rechnungen und Überweisungen auf Papier beschäftigt“, stöhnt CNS-Präsident Paul Schmit. Erst vergangene Woche musste er mal wieder öffentlich erklären, weshalb die Rückzahlungen durch die Kasse so lange dauern. „Aber das ist in der kalten Jahreszeit, wenn viele Leute krank werden, immer so.“ Und hört vielleicht auf, wenn in Zukunft mehr und mehr elektronisch abgerechnet wird.
Schmit schränkt jedoch ein: „Die Patientenakte ist kein Projekt der CNS, sondern des Gesundheitsministeriums.“ Auf die Idee, das Gegenteil wäre der Fall, könnte man kommen, weil Schmit dem Verwaltungsrat der e-Santé-Agentur vorsitzt und diesem Gremium auch noch je ein Vertreter der Gewerkschaftler und der Unternehmer aus dem CNS-Vorstand angehört. Dagegen ist Schwebag, Jurist im Gesundheitsministerium, der einzige Delegierte aus der Villa Louvigny. Das Sozialministerium ist durch den Direktor der Generalinspektion der Sozialversicherung vertreten. Bei so viel CNS und Inspektion liegt der Gedanke nicht fern, die Datensätze in der Patientenakte könnten dazu dienen, zu kontrollieren, welcher Bürger wann weshalb krank geschrieben wurde und welcher Arzt wann was und aus welchem Grund verschrieben hat.
„Falsch“, sagt der CNS-Chef. Die Kasse erhalte keinen Zugang zu den Patientendaten. „Das kann nicht sein, das darf nicht sein.“ Wolle die CNS kontrollieren, habe sie ihre eigenen Daten. „Dazu brauchen wir die digitale Patientenakte nicht.“ Vergessen werden dürfe außerdem nicht, dass der Patient sein e-Dossier weitgehend selber verwalten werde.
Ob und wie das gehen soll, war jahrelang debattiert worden, nicht zuletzt mit dem Ärzteverband AMMD. Dass es eines Tages einen riesigen Server geben könnte, auf dem für jeden Patienten eine zentralisierte digitale Akte abgelegt wird, war eine Vorstellung, die auch der AMMD nicht behagte. Deshalb gilt nun zum einen, dass das digitale Dossier lediglich Teile aus den Akten enthält, die über einen Patienten geführt werden, sei es durch Ärzte, Krankenhäuser oder Gesundheitsberuflern wie Physiotherapeuten oder Hebammen. Zum anderen wird an alle medizinischen Dienstleister ein digitaler Schlüssel ausgegeben, der sie zum Öffnen einer e-Patientenakte berechtigt. Doch das klappt nur, wenn der Patient gleichzeitig seinen persönlichen Schlüssel eingibt. Überdies kann der Patient bestimmen, wer in seiner Akte nur lesen und wer auch schreiben darf, und Zugriff auf sämtliche Informationen im Dossier erhält nur, wen der Patient zuvor in den Kreis besonders „vertrauenswürdiger“ Personen aufgenommen hat. Damit diese Regeln nicht dem Pa-tienten selber schaden, wenn er nach einem Unfall bewusstlos in der Notaufnahme eines Krankenhauses ankommt, in dem er noch nie war, sollen besonders vitale Informationen, etwa zu Allergien oder Medikamenten-Unverträglichkeiten, auf einer Patientenkarte gespeichert werden.
Hinzu kommt: „Auch wer Zugang zum Dossier erhalten hat, wird nicht alles sehen.“ Das diene, erläutert Hervé Barge von der Agence e-Santé, nicht nur dem Datenschutz, sondern auch der inneren Ordnung der Patientenakte. „Intern werden die Informationen nach dem Datum, nach der Art der Information und der Funktion des Dienstleisters geordnet.“ So werde garantiert, dass etwa über einen Krebspatienten, zu dem in kurzer Zeit sehr viele Daten generiert werden, jeder Bericht und jede Analyse an die richtige Stelle kommt und sich Krankheits- und Therapieverlauf chronologisch richtig nachvollziehen lassen.
Gegenüber der heutigen Praxis, wo ein Arzt nicht selten in einem Analyselabor oder einem Krankenhaus anruft, die Matrikelnummer seines Patienten angibt und Daten per Fax oder E-Mail zugestellt erhält, wird die Patientenakte nicht nur für mehr Zuverlässigkeit, sondern auch für mehr Sicherheit sorgen: Nur ein Fünftel der niedergelassenen Ärzte sind Abonnenten des seit 2005 bestehenden Healthnet, einer abgesicherten Hochgeschwindigkeits-Datenautobahn. Alle anderen nutzen zum Transfer der Patientendaten schon mal Dienste wie Yahoo oder Googlemail. „Dass die Patientenakte auch eine verschlüsselte Messagerie enthalten wird, ist schon ein Fortschritt für sich“, betont Mike Schwebag.
Andere Neuerungen sind noch in Arbeit. „Intelligent“ soll die Software des Patientendossiers nicht nur agieren, indem sie eingehende Informationen automatisch sortiert. Santec, die Abteilung für Gesundheitstechnologien am Forschungszentrum Henri Tudor, arbeitet innerhalb des Konsortiums an Lösungen zur „Wissensorganisation“ im Patientendossier: Im Hintergrund des Systems sollen diverse Helferlein ans Werk gehen und die abgelegten Patientendaten laufend interpretieren. Man arbeite, sagt Santec-Direktor Robert Lemor, zum Beispiel an einem Modul, das den Arzt über Medikamenten-Wechselwirkungen informiert. „Erkennt das Modul eine solche, erhält der Arzt einen Hinweis eingeblendet.“
Ein anderes Modul werde die in die Patientenakte eingegebenen Berichte und Therapieansätze automatisch auswerten, sie mit international anerkannten Behandlungsleitlinien vergleichen und daraus ebenfalls „Informationen“ an den Mediziner destillieren. Ein „Mehrwert“ für Arzt und Patient sei das, ist Lemor überzeugt – wenngleich im Moment noch Work in progress und durchaus delikat: Wie viele Ärzte es schätzen werden, von ihrem Computer darauf hingewiesen zu werden, dass eine Leitlinie eine andere Behandlung empfehlen würde als man selber sie eben beschlossen hat, bleibt abzuwarten. „Bevormundet werden sollen die Ärzte auf keinen Fall“, sagt Lemor. „Informieren wollen wir.“
Mike Schwebag vom Gesundheitsministerium hofft, dass mit der Zeit immer neue digitale Zusatzdienste für die Patientenakte entwickelt werden. Am Ende könne „ein regelrechter Hunger nach neuen Services aufkommen“, glaubt Schwebag. Auch bei den Patienten, die sich dank e-Santé mehr als bisher für ihre Gesundheit zu interessieren beginnen könnten.
Aber wenn nach dem Go durch die Datenschutzkommission das digitale Dossier an den Start geht, wird eine Frage lauten, ob es tatsächlich von allen möglichen Seiten mit Informationen gefüttert werden wird. Es könnte schon ein Akzeptanzproblem geben, „falls die Leute nicht gleich etwas in ihrem Dossier sehen“, meint Schwebag. Weil zu Beginn nicht viele digitale Daten vorliegen werden, die in die Patientenakte importiert werden können, müssen Berichte und Analysen, die auf Papier vorliegen, gescannt und als PDF-Datei ins Dossier gestellt werden. Wer das machen soll? Die Referenzmediziner. Mit ihnen und ihren derzeit über 20 000 Patienten soll die Testphase des digitalen Dossiers absolviert werden. „Gut möglich“, sagt CNS-Präsident Schmit, „dass wir dann noch nachjustieren müssen.“
Denn obligatorisch wird die Teilnahme an der digitalen Patientenakte nicht – weder für den Bürger, noch für die Mediziner oder sonst einen Gesundheitsdienstleister. Als positiver Anreiz für die Leute soll dienen, dass sie aus ihrer Akte ein „Resümee“ erhalten, das regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht wird und über den individuellen Gesundheitszustand Auskunft gibt. Anreiz für den Arzt soll ein Extrahonorar sein, mit dem er eine Beteiligung am Dossier vergolten erhält. Jedenfalls wünscht der Ärzteverband das, konnte sich mit der CNS darüber aber bisher noch nicht einigen.
Wie die Dinge liegen, könnte es in den Praxen der Ärzte aber auch technische Hürden geben: Zwar sind, wie eine Studie des Consulting-Unternehmens Deloitte ergab, 81 Prozent der Mediziner ans Internet angeschlossen und nutzen 86 Prozent eine Software zum Management ihres Cabinet und zur Führung eines Patientendossiers. Von Praxis zu Praxis aber sind dafür derzeit 50 verschiedene Programme im Einsatz. Ob es am Ende wirklich kein Interoperabilitätsproblem zwischen Praxis-Software und digitalem Patientendossier geben wird, werden erst die Tests zeigen.
Anfang dieser Woche schließlich hatte die Patien-tevertriedung noch auf Probleme aufmerksam gemacht, die sich ihrer Meinung nach stellen. Momentan ist vorgesehen, dass für jeden bei der CNS Versicherten eine digitale Patientenakte angelegt wird, man sie auf Wunsch aber schließen lassen kann. Dieses Opt-out-Prinzip möchte die Patientevetriedung durch ein Opt-in ersetzen, wie es in Frankreich gilt: Ein Dossier würde dann nur für diejenigen geöffnet, die das ausdrücklich beantragt haben.
Zur Begründung führt die Patientevertriedung Datenschutzbedenken an: Über das Opt-out hinaus soll für das Patientendossier von Amts wegen noch ein „weiches Opt-in“ gelten. Erst wenn ein CNS-Versicherter seinen persönlichen Code zum ersten Mal in ein Terminal bei einem Arzt oder gleich welchem Dienstleister eingegeben hat, wird das Dossier aktiviert. Doch dasselbe geschehe automatisch, sobald man in ein Krankenhaus eingeliefert wird und dort die Charta der Klinik unterschreibe, machte die Patientevertriedung geltend. Um auch die letzte Möglichkeit auszuschließen, dass das Dossier ohne Wissen des Pa-tienten hochgefahren werden könnte, sei das Opt-in vorzuziehen.
Bei Regierung, CNS und e-Santé-Agentur hat der Vorstoß der Patientevertriedung für Irritationen gesorgt. Agentur-Chef Barge zerstreut Datenschutzbedenken, die die Asbl noch geäußert hat: Die Patientenakte werde abgesichert wie ein Bankkonto, so Barge, unbefugter Zugriff von außen sei ebenso ausgeschlossen wie jeder Zugangsversuch rückverfolgbar sei. Im Gesundheitsministerium erstaunt man sich, dass die Patientevertriedung das Opt-out gerade jetzt, kurz vor Start des digitalen Dossiers, entdeckt hat: Will sie das Vorhaben etwa bremsen, denn das Opt-out durch ein Opt-in zu ersetzen kann nicht mit der großherzoglichen Verordnung geschehen, auf die alle noch warten; dazu müsste das Krankenkassengesetz geändert werden.
Dass die Asbl mit dem OGBL-Funktionär René Pizzaferri an der Spitze eine politische Agenda hat, verhehlte sie gar nicht, als sie am Dienstag Vormittag auf einer Pressekonferenz erst auf Nachfragen hin überhaupt etwas Positives am Patientendossier fand. Stattdessen warnte Pizzaferri, die digitale Patientenakte berge, gemeinsam mit dem Referenzmediziner, die Gefahr des Einstiegs in eine „Zwei-Klassen-Versorgung“.
Als Vorstandsmitglied der CNS und als einer von dessen Vertretern im Verwaltungsrat der e-Santé-Agentur wird Pizzaferri wissen, wovon er spricht. Und tatsächlich stellt sich mit dem Referenzmediziner eine spannende Frage um die digitale Patientenakte: Ungeachtet aller in die Software eingebauten, automatisch waltenden Intelligenz – führen soll das Patientendossier der Referenzarzt. So legt es seit 2010 das Gesundheitsrefomgesetz fest.
Doch noch hat längst nicht jeder Bürger einen Referenzarzt. Weil die Mediziner mit der erweiterten Vertrauensfunktion Extrahonorare mit der Kasse abrechnen können, zog die es vor zwei Jahren vor, lieber nicht zu viel Reklame für die Referenzärzte zu machen und sie während einer dreijährigen Testphase in erster Linie für chronisch Kranke und für Kinder zu empfehlen.
Falls das so bleiben soll, hieße es freilich: Gibt es keinen Referenzarzt für jedermann, kann es auch schlecht eine Patientenakte für sehr viele geben, und die Investition in die schöne neue Lösung würde womöglich fehlplatziert. Doch als 2010 die Diskussion um die Gesundheitsreform begann, war der Referenzarzt noch nicht als ein Mediziner vorgesehen, der seinen Patienten einfach noch mehr Service bietet und die Kasse dafür Extrahonorare kostet. Wäre es nach dem damaligen Gesundheits- und Sozialminister Di Bartolomeo gegangen, hätte der Referenzarzt als Filter wirken sollen, ehe ein Patient sich an einen Spezialisten wendet. Die freie Arztwahl sollte dadurch zwar nicht abgeschafft werden. Doch wer zuerst seinen (Referenz-)Hausarzt aufgesucht hätte, statt gleich den Spezialisten, dem sollte eine „bessere“ Kostenerstattung durch die CNS winken, versprach der Minister damals.
Vor vier Jahren scheiterten diese Pläne am Widerstand des Ärzteverbands wie an dem der Gewerkschaften. AMMD-intern gab es keinen Konsens für eine Verzerrung der Konkurrenz unter den freiberuflichen Ärzten zugunsten der Referenzmediziner. Die Gewerkschaften wiederum fürchteten, jede noch so kleine Einschränkung der freien Arztwahl werde über kurz oder lang von Privatversicherungen ausgenutzt, ihren Kunden den direkten Zugang zum Spezialisten als Extraleistung anzubieten. Solcher Widerstand wäre heute ebenfalls wahrscheinlich, wollte die Regierung den Referenzarzt mit derselben Rolle versehen, wie 2010 geplant. Doch falls das nicht geschieht, fragt sich, wer die digitale Patientenakte führt, und vor allem auch, zu welchem Preis.