Geht eine Legislaturperiode zu Ende, droht nicht selten die scheidende Regierung ihrer Nachfolgerin eine defizitäre Krankenversicherung zu hinterlassen. So war es 1999, als das Minus bei der Krankenkassenunion UCM 2,1 Milliarden Franken betrug. 2004 war es mit 100 Millionen Euro doppelt so groß. Im Wahljahr 2009 dagegen rechnet die soeben neu gebildete nationale Gesundheitskasse CNS mit 16,3 Millionen Euro Überschuss und mit einem kumulierten Überschuss von 12,9 Millionen Euro. Das sieht nicht schlecht aus – und auf den ersten Blick so, als müssten sich die Versicherten ein Jahr später weder auf Leistungsverschlechterungen gefasst machen wie 2000, noch auf Beitragserhöhungen wie 2005.
Auf den zweiten Blick ist die Lage komplexer. Selbst der notorisch gut gelaunte Gesundheits- und Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) nannte vor sechs Wochen bei der Vorstellung des Jahresberichts der Sozialversicherung die Krankenkassen die für die Auswirkungen der Wirtschaftskrise „anfälligste“ Branche im Sozialsystem. Man weiß halt nichts Genaues nicht, denn die Generalversammlung der Krankenkassenunion Mitte November konnte kaum anders, als ihr Budget 2009 auf dieselben Annahmen für Wirtschafts- und Arbeitsplatzwachstum aufzubauen wie die Regierung den gewagten „antizyklischen“ Staatshaushalt für dieses Jahr.
Ganz kurzfristig ist das nicht unbedingt riskant. Gibt es dieses Jahr weniger Beschäftigungswachstum als die vergangenen Oktober vom Statec veranschlagten 2,7 Prozent, hieße das auch mehr Arbeitslose. Doch da Arbeitslose Sozialbeiträge entrichten, fiele der Einnahmenverlust für die CNS voraussichtlich klein genug aus, dass man bei der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) derzeit davon ausgeht, dass es schon zu einer Massenarbeitslosigkeit kommen müsste, damit die Rechnung zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung bereits dieses Jahr nicht stimmt.
Dass fürs nächste Jahr doch alles offen ist, hat nicht nur mit den Unwägbarkeiten der Wirtschaftskrise zu tun. Sollte die neue Regierung einen defizitären Staatshaushalt 2010 vorbereiten müssen, könnten Finanz- und Budgetminister die staatlichen Transfers an die Sozialkassen ebenso als „Automatismen“ in Frage stellen, wie Jean-Claude Juncker und Luc Frieden es 2005 schon taten. Diesmal aber womöglich mit mehr Konsequenz.
Schon fordert Premier Jean-Claude Juncker in Presseinterviews „Bescheidenheit“ ein. Ist das Gesundheitssystem robust genug ist, um einem Verzichtsaufruf an die kollektive Solidarität zu folgen, ohne dass einfache und eventuell fatale Entscheidungen getroffen werden?
Robust genug ist es sicher nicht: Minister Di Bartolomeo erklärt nach draußen bei jeder sich bietenden Gelegenheit, am solidarischen Finanzierungsprinzip werde nie und nimmer gerüttelt; ins System hinein sendet er die Botschaft, die Spitäler mögen um Gottes Willen keine neuen Ärzte einstellen. Damit ist das Problem schon benannt: Es sind die Sachleistungsausgaben für Klinikbehandlungen, Arzthonorare oder Medikamente, und es sind im Besonderen die Spitäler, weil sie hierzulande das Rückgrat der medizinischen Grundversorgung bilden und den bei weitem größten Ausgabenposten der Kassen.
Dass das zum Problem zu werden riskiert, kann man durchaus dem Minister anlasten. In ihrem Koalitionsabkommen hatten CSV und LSAP eine „stratégie intégrant les différents prestataires de soins de santé, les aspects de la médicine curative et de la médicine préventive, les soins ambulatoires et les soins hospitaliers“ angekündigt. Das bedeute, erläuterte Mars Di Bartolomeo im Land-Interview am 24. September 2004: „Welche Pflegeketten benötigen wir, welche Leistungen sollen von wem und wo angeboten werden? Was soll ambulant geleistet werden, was stationär, welche Zwischenstrukturen brauchen wir eventuell?“
Viereinhalb Jahre später hält der Minister die am vergangenen 1. Dezember eröffneten Maisons médicales in Luxemburg-Stadt, Esch/Alzette und Ettelbrück für eine Erfolgsgeschichte und denkt darüber nach, das Konzept auszuweiten. Was sich wie ein innovativer Ansatz zum Ausbau der Primärpflege und wie ein interessantes Angebot für den ländlichen Raum liest, ist allerdings auf keine Vorstellung für eine Arbeitsteilung zwischen Kliniken und Maisons médicales gegründet und kann das System ohne weiteres verteuern. Geschweige, dass eine Gesamtstrategie vorläge.
Dabei soll nach dem Entwurf zum neuen Spitalplan das Klinikangebot zumindest nicht sinken. Jedes der fünf großen Krankenhäuser im Land – je eines im Norden und im Süden, drei im Zentrum – erhält bis auf wenige Ausnahmen dieselben Dienste zuerkannt. Damit akzeptiert der Minister auch alle bisher nicht genehmigten Dienste, die Kliniken einfach so betreiben, etwa die umfangreiche Kinderabteilung in der Bohler-Klinik des Centre hospitalier de Kirchberg als Konkurrenz zur Kinderklinik des CHL.
Diese Kapitulation vor dem Ist-Zustand erfolgt aber nicht nur, weil unklar ist, wie die Gesundheitsversorgung in einem Land mit nur rund 500 000 potenziellen Patienten am besten gestaltet sein sollte. Sie hat auch zu tun mit Politik. Bereits unter der vorigen Regierung hieß es, die großen Spitäler sollten sich in bestimmten Behandlungsdisziplinen zu Kompetenzzentren entwickeln. 2002 empfahl eine Arbeitsgruppe Spezialisierungen in Bereichen wie etwa Mutter [&] Kind, Neuromedizin, orthopädische Chrirurgie oder bei Krebsbehandlungen.
Aber so, wie es wahrscheinlich nicht zu einem Kompetenzzentrum Mutter [&] Kind führt, wenn das Kongregationsklinikum auf dem Kichberg sich eine Kinderklinik „nimmt“, dient es generell kaum dem Aufbau von Kompetenzzentren, wenn die Führung des CHL keine Zuständigkeiten an andere Häuser abtreten will, weil sie das ihre als „hôpital phare“ im Lande versteht. Da das Kirchberger Spital sich der politischen Unterstützung der CSV erfreut und das CHL tradionell einer LSAP-Lobby, dürfte Streit über diese Frage in der Koalition gar nicht erst aufkommen. Und immerhin war es mit Johny Lahure ein LSAP-Gesundheitsminister, der in den Neunzigerjahren den Satz: „Le privé doit être traité comme le public!“ prägte und dem Bau eines großen, privaten Kongregationsspitals neben dem schon bestehenden öffentlichen CHL zustimmte. Der aktuelle Minister hat so wenig Einfluss auf Synergien im Sektor, dass die Spitäler nach und nach Konventionen mit ausländischen Universitätskliniken eingehen. So sinnvoll das sein könnte: Es verhindert die Bildung kritischer Massen zur Behandlung komplizierterer Fälle daheim.
Die besondere Lage in der Hauptstadt, wo es mit CHL und CHK zwei in der Bettenzahl vergleichbare Hôpitaux régionaux plus die kleinere Zitha-Klinik als Hôpital général gibt, wirkt darüber hinaus wahrscheinlich kostensteigernd. Den öffentlich zugänglichen Daten der Carte sanitaire zufolge, die als Basis für die Planung des medizinischen Angebots dient, stieg in der Region Zentrum zwischen 1995 und 2004 das Klinikangebot deutlich: Die Bevölkerung nahm in der Zeit nur um neun Prozent zu, die chirurgische Aktivität, ausgedrückt in Passagen in den OP-Sälen, dagegen um 33 Prozent. Im Süden, zum Vergleich, wuchs die Zahl der Bevölkerung um 13 Prozent, die der chirurgischen Behandlungen nur um elf Prozent. Was darauf hindeutet, dass ein erweitertes Angebot auch stärkere Nutzung nach sich zieht. Noch besser lässt sich ein „Kirchberg-Effekt“ an der Ärzte-Demografie in den Kliniken der Hauptstadt ablesen: Ende 2004 lag die Zahl der als Belegärzte anerkannten Mediziner im Hôpital de Kirchberg nur um fünf Prozent höher als die der in den Vorläuferkliniken Sacré Cœur und Sainte-Élisabeth im März 2001 akkreditierten. Dagegen stieg die Zahl der Ärzte im selben Zeitraum in der Zitha-Klinik um 29 Prozent und im CHL und der mit ihm später fusionierten Eicher Klinik um zusammengenommen 34 Prozent. Von der Grundsteinlegung des neuen Konkurrenten auf dem Kirchberg im Jahre 2000 bis zur Eröffnung Mitte 2003 wurde offenbar einiges unternommen.
Dass sich daraus die dringende Frage ableitet, welches Gesundheitssystem Luxemburg haben soll, hätte auch die Modélisation du budget social nahe legen müssen, die die IGSS beim Genfer Bureau international du travail (BIT) ein Jahr nach der BIT-Studie zum Pensionssystem in Vorbereitung des Rentendësch in Auftrag gab: Der vertrauliche Bericht, der Anfang 2005 vorlag, sagte für die Krankenversicherung ab 2005 wachsende Defizite voraus und um 2008 die Unfinanzierbarkeit: Die Deckungslücke hätte dann bis zu 2,6 Prozent des BIP ausmachen können. Am Ende kam es anders, denn das BIT hatte das Arbeitsplatzwachstum mit 1,3 bis 1,7 Prozent jährlich viel vorsichtiger geschätzt, als es tatsächlich eintrat. Dem BIT-Szenario nach hätte es 2008 nur knapp über 100 000 berufstätige Grenzpendler nach Luxemburg gegeben; tatsächlich waren es im vergangenen September über 150 000. 2007 und 2008 hatte der Jobzuwachs zwischen vier und fünf Prozent betragen.
Auffällig ist jedoch, dass sich die wichtigen Ausgabenposten nahezu so entwickelten, wie vom BIT prognostiziert: 2007 sollten laut BIT die Arzthonorare 212 Millionen Euro kosten, tatsächlich waren es 241 Millionen. Und während das BIT für die Krankenhäuser 622 Millionen Euro für 2007 veranschlagte, kosteten sie schließlich 612 Millionen. Am Ende dürfte es auch die gute Konjunktur gewesen sein, die den Minister veranlasste, statt an der großen Reformstragie lieber an der Schärfung des „Problembewusstseins“ aller Beteiligten zu arbeiten.
Nie wurde so viel kommuniziert wie unter Mars Di Bartolomeo, der viel weniger konfliktbereit ist als seine flotten Reden als Oppositionsabgeordneter seinerzeit vermuten ließen. Doch ungeachtet aller Gespräche verfügt insbesondere der Spitalsektor noch immer nicht über das nötige Steuerungsinstrumentarium, um große Sparschritte im System mitzugehen: Punktuelle Maßnahmen wurden ergriffen, wie die Bildung einer gemeinsamen Einkaufszentrale für Medikamente und Verbrauchsmittel. Aber nach wie vor wird die Kliniktätigkeit, werden auch die ärztlichen Akte in den Kliniken nicht überall einheitlich erfasst. Und für die Erfassung stehen lediglich die Codes der veralteten Tarifnomenklatur zur Verfügung. An die Nomenklatur zu rühren und Widerstand des Ärzteverbands zu riskieren, war dem Gesundheitsminister stets zu heiß. Nur leider lässt sich aus der aktuellen Codierung nicht einmal ablesen, ob ein Patient an der rechten oder an der linken Seite operiert wurde.
Doch wenn es weder über die geleistete Pflege, noch über den Materialeinsatz, noch über die Behandlungen Klarheit gibt, weiß das System nicht, was es tut. Da jede Klinik darüber hinaus individuell ein Budget mit der Kasse verhandelt, ist der Stand der Dinge der, dass unter Spitälern nach wie vor eine Konkurrenz gepflegt wird, obwohl es weder einen Preis gibt, noch Transparenz über die geleistete Qualität.
In einer solchen Lage muss man sich vor ernsthaften Einschnitten ins System fürchten. Aber vielleicht behält die Gesundheitskasse ja Recht: In einer Vorausschau bis zum Jahr 2011 geht sie – wieder ähnlich optimistisch wie die Regierung – davon aus, dass das Beitragswachstum sich 2009 und 2010 nur verlangsamt, ehe 2011 die Zuwächse wieder ähnlich hoch wären wie 2007 und die Welt zumindest pekuniär wieder in Ordnung.