Leitartikel

Ideologieexperten

d'Lëtzebuerger Land vom 22.03.2013

Vergangene Woche überreichte die Commission nationale de contrôle et d’évaluation de l’application de la loi du 16 mars 2009 relative à l’euthanasie et l’assistance au suicide Kammerpräsident Laurent Mosar (CSV) ihren zweiten Bericht über die Anwendung des Euthanasiegesetzes. Überraschend daran war nur die geringe öffentliche Aufmerksamkeit, die dem Bericht geschenkt wurde. Denn sie stand in keinem Verhältnis zur Aufregung, die vor nur vier Jahren bei der Verabschiedung des Gesetzes herrschte. Damals hatte eine monatelange Debatte alte Kulturkampffronten wieder aufgerissen, hatte die CSV sich im Parlament in die Minderheit versetzen lassen, hatte der Großherzog eine Verfassungskrise ausgelöst, als er sich weigerte, das Gesetz zu billigen und zu verkünden, wie es die dann rasch geänderte Verfassung vorsah.

Laut dem Bericht des Überwachungsausschusses setzten 2011 und 2012 elf unheilbar an Krebs und drei an einer fortschreitenden Zerstörung des Nervensystems leidende Menschen ihrem nur noch aus Schmerz bestehenden Leben ein Ende, indem sie sich ein Narkosemittel zusammen mit einem muskellähmenden Präparat verabreichen ließen. In den beiden ersten Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes ließen fünf Kranke ihrem Leben ein Ende setzen. Eine auffällige Zunahme ist das nicht, sie ist wohl darauf zurückzuführen, dass Ärzte und Kranke im Laufe der Zeit vertrauter mit den neuen Bestimmungen wurden.

Der aus neun Medizinern, Juristen und Patientenvertretern zusammengesetzte Überwachungsausschuss gab allen 14 von Ärzten auf Wunsch der Kranken eingereichten Anträgen statt. Er hielt es in keinem Fall für nötig, wie es das Gesetz erlaubt, wegen Zweifeln an einem Antrag den Namen eines Kranken erfahren zu wollen oder gar die Ärztekammer und die Staatsanwaltschaft zu benachrichtigen. So dass die Kommission in den gleichen Worten wie in ihrem ersten Bericht zur Schlussfolgerung kommt, dass die Anwendung des Euthanasiegesetzes keine größeren Schwierigkeiten bereitet und nicht zu Missbräuchen geführt habe, die eine Gesetzesänderung nötig machen würden.

Das klingt alles weit unaufgeregter als die Horrorszenarien, welche verschiedene Euthanasiegegner bei der Verabschiedung des Gesetzes im Februar 2008 an die Wand malten. Damals hatte die Abgeordnete Martine Stein-Mergen als mandatierte Sprecherin der CSV-Fraktion beklagt, dass ihr ganzer Berufsstand, derjenige der Ärzte, „außerhalb des Strafgesetzes gestellt“ werde. Ihrer Parteikollegin Marie-Josée Frank schauderte gar davor, dass bald „missgebildete Kinder weggespritzt“ zu werden drohten und „Menschen, die nicht mehr rentabel“ seien. Vor der Kammerdebatte hatte Erzbischof Fernand Franck schon im Dezember 2007 über die Ergänzung zum Strafgesetzbuch prophezeit: „Als gesellschaftliches Angebot reißt sie die Schranken des Lebensschutzes ein und öffnet dem Missbrauch Tür und Tor“, und vor der Debatte über den abgewandelten Text wusste er ein Jahr später, das Euthanasiegesetz öffne „einen Rechtsraum, in dem mehr Probleme geschaffen als gelöst werden“.

Unabhängig davon, wie weit man sich aus ethischen, religiösen oder korporatistischen Gründen anmaßt, besser über die Schmerzen anderer urteilen zu wissen, als sie selbst, zeigt der eklatante Widerspruch zwischen den Prophezeiungen der Gegner des Euthanasiegesetzes und den Bilanzen des Überwachungsausschusses erneut, wie verschwommen der Unterschied zwischen Experten und Ideologen ist. Und das gilt nicht nur für die Sterbehilfe, sondern auch für alle anderen emotional aufgeladenen Interessenkonflikte, vom Klimawandel über die Rentenversicherung und die Bildungspolitik bis zur Euro-Krise.

Romain Hilgert
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