Eine Brille als Zeichen der Solidarität mit Opfern häuslicher Gewalt? Was wie ein oberflächlicher Gimmick klingt, hat einen tieferen Sinn: Weil viele Frauen ihre Blessuren im Gesicht hinter großen Sonnenbrillen zu verbergen versuchen, sind Teilnehmerinnen und Teilnehmer am für den 8. März geplanten Protestmarsch gegen Gewalt gegen Frauen gebeten, eine solche Brille mitzubringen.
Gewalt gegen Frauen in ihren unterschiedlichen Formen steht im Fokus der Aktionsplattform zum Internationalen Frauentag. Und obwohl es nicht das erste Mal ist, dass Menschen für das Thema auf die Straße gehen, hat es an Aktualität nichts eingebüßt. 357 Wegweisungen von schlagenden Partnern hat die Staatsanwaltschaft im vergangenen Jahr ausgesprochen. Das sind 26 mehr als im vergangenen Jahr. Auch die polizeilichen Interventionen gegen häusliche Gewalt steigen weiter: um 19 Prozent von 775 im Jahr 2011 auf 801. „Ohne Unterstützung können wir die Arbeit nicht bewältigen“, sagt Polizei-Pressesprecher Vic Reuter besorgt.
„Es sind alarmierende Zahlen“, bekräftigt Gleichstellungsministerin Françoise Hetto-Gaasch (CSV). Sie weilte zum Zeitpunkt des Gesprächs mit dem Land in New York, um dort vor den Vereinten Nationen über die Erfahrungen mit dem Luxemburger Wegweisungsgesetz zu berichten. Was die Ursachen für den ungebrochenen Trend zum Schlagen sind, kann Vic Reuter von der Polizei nicht mit Sicherheit sagen, aber er hat eine Vermutung: „Vielleicht ist Gewalt in der Gesellschaft weniger akzeptiert und deshalb wird die Polizei schneller zu Hilfe gerufen.“ Ein anderer möglicher Faktor: die anhaltende Zuwanderung.
Frauenorganisationen werden nicht müde zu betonen, dass Frauen und Kinder in allen sozialen Schichten und unterschiedlicher Nationalität Opfer von Gewalt werden. „Es kann jede treffen“, unterstreicht Joëlle Schranck von Femmes en détresse, einer Organisation, in deren Häusern Frauen mit Kindern Zuflucht vor ihrem gewalttätigen Partner finden. „Es ist nicht so, wie viele meinen, dass Gewalt nur ausländische Frauen betrifft. Auch Luxemburgerinnen sind betroffen“, betont sie.
Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich hatten 2012 laut Statistik der Frauenhäuser 35,5 Prozent der betroffenen Frauen einen portugiesischen Pass, 35,5 Prozent waren luxemburgischer Nationalität. Bei den Tätern waren 34,45 Prozent Portugiesen und 30,53 Prozent Luxemburger, neben Franzosen, Belgiern, Deutschen, Niederländern, Kap-Verdiern, Serben, Russen und anderen. Berücksichtigt man den jeweiligen Anteil an der Gesamtbevölkerung, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass unter Portugiesen Gewalt gegen Frauen deutlich häufiger vorkommt.
Ob Gewalt gegen Frauen einen kulturellen Hintergrund hat, ob diese in der portugiesischen Gemeinschaft akzeptierter ist, steht auf einem anderen Blatt. Bei Spaniens sozialistischer Regierung schrillten angesichts der vielen Todesfällen von Frauen, die durch ihren schlagenden Partner ums Leben kommen, die Alarmglocken. Spanische Frauenorganisationen prangerten die „machistische Haltung“ vieler spanischer Männer an.
Gewaltstudien in Deutschland ergaben, dass Frauen mit einem Migrationshintergrund eine höhere Häufigkeit hatten, von ihrem Partner geschlagen zu werden, als deutsche. Allerdings: Eine Analyse des Schweizer Gleichstellungsministeriums vom Dezember 2012 hält auch fest, dass sich die höhere Belastungsrate ausländischer Personen „nicht alleine durch deren Staatsangehörigkeit erklären“ lasse. Vielmehr scheinen mehrere Ursachen zusammenzuspielen: Ausländer, welche in Beziehung gewalttätig werden, sind tendenziell jünger und öfter sozial isoliert. Sie stehen unter sozioökonomischen Druck, weil ein Partner arbeitslos ist, weil die Wohn- und/oder die Arbeitssituation prekär ist, haben eine niedrigere Bildung. Dies könnte, so heißt es im Schweizer Bericht, bei „Männern aus Gesellschaften mit traditionellen Rollenerwartungen“ dazu führen, „dass diese ihre Rolle als Ernährer unter Umständen nicht erfüllen können, was zu Konflikten und Minderwertigkeitsgefühlen führen kann“.
In Luxemburg werden diese möglichen Zusammenhänge nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert – und das obwohl Luxemburg seit Jahren ein Einwanderungsland ist und die Zahl der häuslichen Gewalt beständig zunimmt. „Das ist eine schwierige Diskussion“, sagt Polizeisprecher Vic Reuter. Die polizeilichen Statistiken erfassen lediglich Merkmale wie Alter und Nationalität. „Die Ursachen zu ermitteln, ist nicht unsere Aufgabe, das müssen Soziologen tun“, sagt Reuter zu Recht. Nicht zuletzt seit der viel kritisierten RTL-Reportage über bettelnde Roma ist die Polizei vorsichtig geworden. „Wir wollen nicht Wasser auf die Mühlen jener schütten, deren Gedankengut wir in diesem Land nicht wollen“, begründet Reuter die Vorsicht etwas umständlich. Die Gleichstellungsministerin warnt ebenfalls vor voreiligen Schlüssen, räumt aber ein, dass „wir die Entwicklung nicht ignorieren können“. Ihr Ministerium will untersuchen lassen, was die Hintergründe für den traurigen Trend sind. Erste Ergebnisse durch das CRP Santé sollen im Jahr 2014 vorliegen.
Fragt man Ausländerorganisationen wie die Asti, die zum Internationalen Frauentag eine Ausstellung einer Brustkrebskranken zeigt, so ist das Phänomen kein unbekanntes. „Wir haben aber nicht die Mittel, um uns professionell auch noch darum zu kümmern“, sagt Laura Zuccoli und verweist auf Antenne d’écoute. Die lusophone Plattform bietet portugiesischen Frauen und Männern, die dies wünschen, psychologische Beratung und Beistand bei familiären Problemen. Die Frauen und Männer, die sich bei Antenne d’écoute engagieren, tun dies seit fast fünf Jahren ehrenamtlich. Eine Gesprächsgruppe widmet sich ausdrücklich dem Alkoholmissbrauch. Alkohol spielt bei Gewalttaten erfahrungsgemäß eine wichtige Rolle, bestätigte der Generaldirektor der Polizei, Romain Nettgen, bei der Präsentation der polizeilichen Kriminalstatistik am Donnerstag.
Eine Gesamtstrategie, wie man die Täter häuslicher Gewalt besser erreichen kann, gibt es aber nicht. Mit dem reformierten Wegweisungsgesetz sollen schlagende Männer – und Frauen – verpflichtet werden, sich binnen 14 Tagen beim Beratungsdienst Riicht eraus zu melden. Fraglich ist jedoch, wie nachhaltig dieser die Täter erreicht. Wer zu Riicht eraus geht, hat bereits ein Gewaltproblem. Das Comité de coopération zwischen Polizei, Frauenministerium, Gerichten und Frauenhäusern bemüht sich zwar um eine bessere Zusammenarbeit, bei der Prävention von häuslicher Gewalt sieht es aber eher mau aus. Sogar der Innenminister fordert mehr Einsatz von Schulen, Jugendhilfe und Sozialarbeit im Kampf gegen Gewalt. „Die Polizei kann das nicht allein“, so Jean-Marie Halsdorff (CSV).
Prävention „ist sicher ein ganz wichtiges Element“ im Kampf gegen häusliche Gewalt, findet auch die Gleichstellungsministerin. Ihr Ministerium hat in der Vergangenheit einen Spot finanziert, der Gewalt gegen Frauen anprangert und Opfer ermutigt, sich bei Polizei oder Frauennotruf zu melden. „Wir fragen uns aber, ob wir damit alle Zielgruppen erreichen“, stellt die CSV-Politikerin selbstkritisch fest. Man habe Kontakt mit „einer Botschafterin“ aufgenommen. Demnächst soll ein Theaterstück zur häuslichen Gewalt durchs Land touren, das sich gezielt an Migranten wendet. Eine interessante Initiative, die es ähnlich in anderen Ländern gibt. Aber das setzt voraus, dass die Zielgruppen das Theaterstück auch schauen.
Ausgerechnet dort, wo Experten sagen, dass Prävention am ehesten Sinn macht – in Schule und Kindergarten – geschieht aber noch sehr wenig. Es gibt einige wenige Sekundarschulen wie das Lycée technique du centre, bei dem der schulpsychologische Dienst regelmäßig den Service Oxygène des Frauennotrufs in Schulklassen einlädt, um sie auf das Hilfsangebot aufmerksam zu machen. Die Oxygène-Mitarbeiterin arbeitet halbtags auf 20-Stunden-Basis, bei rund 30 Lyzeen bleibt keine Zeit für systematische Besuche, so dass der Service nur auf Anfrage kommt. Christa Brömmel von Frauendokumentationszentrum Cid-femmes, das den Anti-Gewalt-Marsch am Freitag mitorganisiert, war einmal mit von der Partie: „Es ist erschreckend, mit welchen Formen von Gewalt viele Jungen und Mädchen schon in jungen Jahren konfrontiert sind. Nicht nur in der Familie, auch über Medien wie Fernsehen und Internet.“
Fällt ein Mädchen oder ein Junge in der Schule wegen blauer Flecken oder verändertem Verhalten auf, können sie sich (oder ihre Lehrer) an den schulpsychologischen Dienst wenden. „Oft sind es die Freundinnen, die den ersten Schritt wagen, berichtet eine Spos-Mitarbeiterin. Eine regelrechte Handreichung darüber, was Gewalt für die betroffenen Kinder bedeuten kann und wie ihnen am besten zu helfen ist, gibt es nicht. Da hat offenbar jeder Spos seine eigene Herangehensweise.Experten betonen, das häusliche Gewalt gerade für die betroffenen Kinder ein traumatisierendes Ereignis ist, das sie oft schwer verstört zurücklässt, sich tief ins Gedächtnis eingräbt und künftiges Verhalten prägt. Schon deshalb seien Frühwarnsysteme so wichtig. Bemerkenswerterweise sind Vertreter der Schulmedizin beim Comité de coopération aber nicht dabei.
Präventionsarbeit in der Schule sei noch aus einem anderen Grund wichtig, schreibt eine Expertenkommission in Niedersachsen, die sich die Prävention von häuslicher Gewalt zum Ziel gemacht hat: um unmissverständlich klar zu machen, dass partnerschaftliche Gewalt strafbares Unrecht ist, eine schwere Menschenrechtsverletzung, die gesellschaftlich geächtet wird.
Angesichts der ständig steigenden Zahlen von Gewalt fragt sich, ob sich nicht wenige mit einem gewissen Maß an Gewalt an Frauen, zumal im Privatbereich von Familie und Partnerschaft, arrangiert haben. Als in Indien eine Studentin auf dem Nachhauseweg vom Kino vergewaltigt wurde und an ihren schweren inneren Verletzungen starb, ging ein Aufschrei durch die Medien. Auch in den westlichen Zeitungen sorgte das Verbrechen tagelang für Schlagzeilen. Dass aber Gewalt durch den Partner für viele indische Frauen die viel größere Bedrohung ist, darüber war kaum etwas zu lesen.
Und man muss nicht so weit in die Ferne schauen: In Europa zählt Gewalt durch den Partner als Hauptursache für den Tod oder die Gesundheitsschädigung von Frauen zwischen 16 und 44 Jahren. Das Europäische Parlament hat Anfang Februar Null-Toleranz gegen Gewalt gegen Frauen gefordert, EU-Kommissions-Vizepräsidentin Viviane Reding unterstützt die Kampagne „One Billion Rising“ gegen Gewalt gegen Frauen.
Da verwundert schon, dass eine kohärente Prävention, die in Schulen den Mädchen und Jungen systematisch beibringt, dass Gewalt in Beziehungen (und auch sonst) nicht in Ordnung ist, und zudem ein Straftatbestand, fehlt und allenfalls punktuelle Ansätze existieren, etwa ansatzweise in der Elternschule Janusz Korczak, die hilfesuchende Eltern mit Gewaltproblemen weitervermittelt. Zwar kommen Vertreter des Unterrichts-, des Gleichstellungs-, des Gesundheits- und des Familienministeriums in einer Arbeitsgruppe über Prävention zusammen. Dabei geht es vor allem um Fragen zur Ernährung oder zur Verhütung. Im Aktionsplan zur sexuellen und affektiven Erziehung, über den die interministerielle Arbeitsgruppe derzeit berät, taucht die häusliche Gewalt nicht auf. Nächste Woche treffen sich die Vertreter. Man werde dort die häusliche Gewalt thematisieren, verspricht Astrid Schorn von Unterrichtsministerium. Dann müsste sich nur noch jemand finden, der für die verbesserten Präventionsbemühungen finanziell aufkommt.