Nach dem trockenen und heißen Sommer 2018 meldeten zu Beginn des neuen Jahres viele Regionen in den Alpen rekordverdächtige Schneemassen. Insbesondere in Bayern, Tirol, Vorarlberg und in der Ostschweiz nahm der außergewöhnliche Schneefall extreme Ausmaße an. Hier zeigte sich die große ökologische Fragilität der Berglandschaft im alpinen Raum: Ganze Täler wurden zeitweise von der Umwelt abgeschnitten, der Verkehr kam zum Erliegen und Lawinenunfälle häuften sich.
Im ostschweizerischen Appenzell kam es am 10. Januar zu einem Lawinenniedergang auf der Schwägalp. Glücklicherweise wurden lediglich drei Personen leicht verletzt, nachdem Schneemassen in das Restaurant des Hotels Säntis eingedrungen waren. Eine Woche später beschädigte eine zweite Lawine am Berg Säntis eine Stütze der Schwebebahn – der Betrieb muss für mehrere Monate eingestellt werden.
Während die beliebte Ausflugs- und Ferienregion im Kanton Appenzell-Ausserhoden unter den extremen Bedingungen litt, wurde der Start in die Saison 2018/19 in den meisten großen Schweizer Wintersportregionen weitgehend positiv bewertet. Frühzeitig einsetzender und ausreichender Schneefall in Kombination mit hervorragendem Wetter bescherte den Tourismusbetrieben nicht nur eine weiße, sondern vor allem eine einträgliche Weihnacht. So berichtete etwa der Zürcher Tages-Anzeiger am 2. Januar 2019: „Wintersportler fluten Skigebiete“. Der Walliser Bote wiederum beobachtete an den Feiertagen zur Jahreswende „wahre Völkerwanderungen“ in die großen Skigebiete Crans-Montana, 4 Vallées und Zermatt.
Im Kanton Graubünden konnte gar eine Steigerung der Gästezahlen um 5,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr verzeichnet werden. „Praktisch alle Bündner Bergbahnen konnten nach den Neujahrsfestivitäten einen Besucherrekord verzeichnen“, sagte Martin Hug, Präsident der Bergbahnen Graubünden, der Regionalzeitung Südostschweiz. Dabei sind gerade die Bündner Feriendestinationen nach einigen schwierigen Saisons auf einen anhaltenden Aufschwung im Wintertourismus angewiesen.
Diverse wirtschaftliche Entwicklungen haben den Schweizer Wintersportorten über das letzte Jahrzehnt hinweg zugesetzt. Allen voran die Finanzkrise und die darauffolgende Schwächung des Euro sowie die anhaltende Abwertung des russischen Rubel führten zu einem starken Rückgang der Gästezahlen aus den benachbarten EU-Ländern und aus Russland. Nicht zufällig setzte in der letzten Wintersaison eine leichte Erholung in der Branche ein – die Währungssituation hatte sich etwas entspannt. In Graubünden konnte insbesondere wieder ein Zuwachs an Übernachtungen deutscher Gäste verzeichnet werden.
Wirtschaftliche Konjunkturen haben allerdings keinen Einfluss auf einen weiteren Faktor, der den Bergbahnen im gesamten Alpenraum weit mehr und vor allem nachhaltiger zusetzt: die durch den Klimawandel bedingte Abnahme des Schneefalls.
Die Wetterbedingungen im Januar 2019 liefen einem allgemeinen, langjährigen Trend entgegen. Im gesamten, aber insbesondere im südlichen Alpenraum ist der Schneefall über einen längeren Zeitraum gesehen rückläufig, wie der Klimaforscher Wolfgang Schöner von der Universität Graz in einer gemeinsam mit dem Schweizer Schneeforschungsinstitut in Davos angefertigten Langzeitstudie aufzeigt. Ökonomen der Großbank Crédit Suisse gehen sogar davon aus, dass bereits 2035 nur noch eine Minderheit der Schweizer Skigebiete „natürlich schneesicher“ sein könnte. Dabei liegen die helvetischen Wintersportdestinationen im Durchschnitt in höheren Lagen als etwa die österreichische Konkurrenz.
In der Schweiz reagieren die Ortschaften mit unterschiedlichen Strategien auf die sich wandelnden klimatischen Bedingungen. Die großen Gebiete wie Davos oder St. Moritz in Graubünden, die Jungfrauregion im Berner Oberland und Zermatt im Wallis verfügen über Skipisten in hohen Lagen, was auch eine höhere Sicherheit auf ausreichend Schneefall bedeutet. Sollte der Schnee dennoch ausbleiben, kommen ökologisch fragwürdige Methoden, wie die Herstellung künstlichen Schnees, zum Einsatz. In Davos wird das so genannte Snowfarming mittlerweile sogar ganzjährig betrieben, um insbesondere die Langlauf-Loipen während der gesamten Wintersaison in Stand zu halten. Die genannten Destinationen haben darüber hinaus eine größere Marktmacht und folglich auch mehr strategische Möglichkeiten als kleinere Wintersportorte. So setzen die großen Skigebiete einerseits auf die Festigung und Erweiterung des Marktanteils am europäischen Wintertourismus, andererseits wird aktives Standortmarketing in den Amerikas und in Asien betrieben, um eine Kundschaft anzusprechen, die ihre Ferien unabhängig von Schnee- und Wetterbedingungen plant.
Urs Kessler, CEO der Jungfraubahnen aus dem Berner Oberland, beispielsweise tourte kürzlich durch China, Taiwan und Japan, um Reiseorganisatoren seine Region vorzustellen. Kessler hofft, asiatische Touristinnen und Touristen künftig auch für einen Wintersporturlaub im Berner Oberland begeistern zu können. Die Bergbahnen aus der weltbekannten Jungfrauregion setzen allerdings nicht nur auf den ausländischen Tourismus, sondern werben auch aktiv um Schweizer Gäste, die weit weniger von den Währungsschwankungen tangiert werden. Im Auftrag des Unternehmens befragte am 11. Januar 2019 eine Werbeagentur Reisende am Hauptbahnhof Zürich über ihre bevorzugten Wintersportdestinationen. Sie wollte in Erfahrung bringen, ob die unlängst erfolgte Eröffnung zweier neuer Bergbahnen und die dadurch verkürzte Anreisezeit in Zukunft ein Argument wäre, sich für einen Aufenthalt im Berner Oberland zu entscheiden, statt die bei den Zürchern beliebten Gebiete in Graubünden aufzusuchen.
Die intensivierten Marketingbemühungen werden in den großen Skigebieten durch eine kontinuierliche Erweiterung des Angebots jenseits der klassischen Wintersportaktivitäten begleitet. In Zermatt etwa starten gefühlt im Zehnminutentakt Helikopter zu Besichtigungsflügen über die schneebedeckten Pisten hoch zum Matterhorn. Der Luxusort St. Moritz im Engadin setzt derweil bei den ausländischen Touristen voll auf die Karte „Exklusivität“: Im Rahmen der Vermarktung der Großregion Engadin als „Sehnsuchtsort“ soll der traditionelle Ruf als Nobeldestination gefestigt und weiterhin eine zahlungskräftige globale Elite angesprochen werden. Im Walliser Wintersportort Saas Fee hingegen haben die Bergbahnen versucht, sich mit günstigen Saisonabonnements von der Konkurrenz abzuheben und insbesondere die Schweizer Kundschaft anzusprechen. Gemein ist all diesen Ansätze allerdings, dass sie auf einer Wachstumslogik basieren: indem sie entweder eine neue Klientel ansprechen, oder der Konkurrenz, allen voran jener mit weniger vorteilhaften geografischen Bedingungen, die Kunden streitig machen.
Kleinere Destinationen wie etwa Scuol im Unterengadin verfügen im Gegensatz zu den genannten Gebieten über geringere finanzielle und räumliche Möglichkeiten zur Vermarktung. Um nach wie vor vom Tourismus leben zu können, müssen solche Gemeinden alternative Strategien entwickeln. So haben sich im Unterengadin – das in punkto Wintersport in Graubünden stets im Schatten der großen Gebiete wie Davos oder St. Moritz stand – die Tourismusregionen Scuol und Samnaun mit dem Naturpark Val Müstair zusammengeschlossen, um ihr Angebot zu erweitern und sich effizienter zu vermarkten. Diese Strategie ist in ihren Grundsätzen jenen der Konkurrenzgebiete zwar ähnlich, unterscheidet sich jedoch in einem wesentlichen Punkt: Sie basiert auf der Idee der Nachhaltigkeit.
Anstatt das Angebot im Wintersport um neue Bergbahnen und Pisten zu erweitern oder zunehmend exklusive Produkte zu vermarkten, wird ein breiter abgestütztes, ganzjähriges Tourismuskonzept entwickelt, in dem der Sommertourismus einen wichtigen Kompensationsfaktor darstellt. So wird insbesondere auf den ökologisch verträglicheren Mountainbike- und Wandertourismus gesetzt. Zudem werden durch Kooperationen zwischen Bergbahnen, Hotels und lokalen Produzenten Synergien geschlossen, die der Region erlauben, mit den größeren Gebieten zu konkurrieren. So lässt sich an diesem Beispiel ein langsamer Abschied vom klassischen Wintersporttourismus beobachten. Mit diesem Ansatz könnte im Idealfall ein Konzept verwirklicht werden, das der renommierte österreichische Alpen-Geograf Werner Bätzing seit den 1990-er Jahren unter dem Begriff „ausgewogene Doppelnutzung“ artikuliert.
Gemäß Bätzing ist es unabdingbar, die wichtige Funktion der Alpen in Europa und der Welt in Bereichen wie Tourismus und Wasserkraft zu fördern, aber gleichzeitig die „Nutzung der eigenen Wirtschaftskraft der Alpen wie Landwirtschaft, Handwerk, lokale/regionale Arbeitsplätze im Rahmen regionaler Wirtschaftskreisläufe“1 sicherzustellen. Die räumliche Konzentration des Tourismus sieht Bätzing dagegen als Gefahr für den Erhalt der hochsensiblen Kulturlandschaft im Alpenraum.
Während die Freizeitindustrie sich vor allem auf rund 300 Tourismuszentren konzentriert, entvölkern sich weite Teile der alpinen Landschaft. Die Alpen befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen Verstädterung und Entsiedlung. Dabei hat gerade die landwirtschaftliche Nutzung die alpine Kulturlandschaft über die letzten Jahrhunderte geprägt. Eine Verwilderung aber brächte keine ursprüngliche Natur zurück, sondern ginge auf Kosten der Artenvielfalt in einem der wichtigsten Naturräume des Kontinents. Laut Bätzing bedarf es gezielter struktureller Eingriffe im Alpenraum, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken: einer angemessenen Agglomerationspolitik; der Schaffung von Arbeitsplätzen; der Stärkung regionalwirtschaftlicher Kreisläufe; der Konzentration auf ökologischen Tourismus sowie der gezielten Aufwertung umwelt- und sozialverträglicher Nutzungsformen. Vor allem der Klimawandel wird die große zukünftige Herausforderung für den Alpenraum darstellen, denn die extremen natürlichen Bedingungen im Hochgebirge fördern klimatische Veränderungen nur allzu deutlich zutage. Lösungsansätze müssen aufgrund der geografischen Lage notwendigerweise über nationale Grenzen hinweg erarbeitet werden.
In dem Sinne kann man im Alpenraum beobachten, was der französische Philosoph Bruno Latour in seinem Essay Où atterir? – comment s’orienter en politique allgemein feststellt: Die zentralen Fragen der Zeit hängen unmittelbar mit dem Umgang des Menschen mit seiner Umwelt zusammen2. Angesichts der Fragilität der extremen Berglandschaft täte der Mensch gut daran, für den alpinen Raum Sorge zu tragen, statt ihn als Freizeitpark zu inszenieren und auszubeuten. Deshalb ist eine Abkehr von der Wachstumslogik, hin zu den ökologischen Herausforderungen notwendig.