Es war 1998, als der Europäische Gerichtshof seine Epoche machenden Urteile in den Streitsachen Kohll und Decker fällte und erstmals die Gesundheitsversorgung als Dienstleistung einstufte, die auf dem EU-Binnenmarkt frei handelbar sein müsse. Zehn Jahre später – am 2. Juli, um genau zu sein – hat die EU-Kommission den Entwurf zu einer Richtlinie über die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung vorgelegt. Welches politische Schicksal dem Projekt beschieden sein wird, ist nicht sicher. Tritt die Richtlinie aber so in Kraft, wie sie derzeit formuliert ist, wird das hiesige Gesundheitswesen ein anderes werden müssen als heute.
Dabei ist der Richtlinienentwurf die abgeschwächte Fassung desjenigen, den sich die Kommission Ende 2007 nicht vorzulegen traute: Damals sollte noch die EU-weite Niederlassung von Ärzten und Paramedizinern geregelt werden, was zuletzt in der „Bolkestein-Richtlinie“ versucht worden war. Außerdem sollte die Binnenmarkt-Freiheit stärker als bisher auf Krankenhausbehandlungen ausgedehnt werden. So viel Gesundheits-Marktwirtschaft aber hätte, so die Befürchtung in Brüssel, womöglich die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags stören können. In dem neuen Papier wird die Niederlassungsfrage der Dienstleister vorsichtshalber ausgeklammert und an mehreren Stellen unterstrichen, den Patienten werde keinerlei „neues Recht“ auf Gesundheitsleistungen im EU-Ausland geschaffen.
Aber ausgerechnet im Hinblick auf das kleine Luxemburg, von dem aus man schnell im Ausland ist, zu dem es praktisch keine Sprachbarrieren gibt, stimmt das so nicht. Eventuell könnten die Luxemburger sich künftig aus einer Fülle ausländischer Angebote bedienen, die ihnen heute nicht zugänglich sind.
Seit dem Kohll/Decker-Urteil von 1998 stehen den Unionsbürgern zwei Wege zur medizinischen Versorgung im EU-Ausland offen. Den klassischen zeichnet die mittlerweile 38 Jahre alte „Wanderarbeitnehmer-Verordnung“ vor: Weil laut EG-Vertrag und Subsidiaritätsprinzip jeder Mitgliedstaat für sein Gesundheitswesen zuständig ist, hat der Patient vor dem Gang ins Ausland die Zustimmung seiner Krankenkasse einzuholen. Was immerhin garantiert, dass die anschließend alle Behandlungskosten trägt. Auf dem zweiten Weg, der auf der Dienstleistungsfreiheit gründet, die der Vertrag von Amsterdam 1997 erstmals festhielt, braucht man keine Vorabgenehmigung. Dafür werden die Behandlungskosten nur bis zu der Höhe erstattet, die bei einer Behandlung daheim gezahlt würde. Preisdifferenzen muss der Patient tragen. Vorfinanzieren muss er die Behandlung in der Regel ebenfalls.
Damit so viel Dienstleistungsfreiheit nicht die Sozialsysteme sprengt und Instrumente wie staatliche Krankenhausplanung nicht hinfällig werden lässt, entschieden die Europa-Richter seitdem immer wieder, dass für Krankenhausbehandlungen weiterhin Vorabgenehmigungen verlangt werden können. Was übrigens der Grund ist, weshalb Luxemburg mit dem „zweiten Weg“ bisher recht gut leben konnte: Da zum einen ambulante Behandlungen im Ausland so stark nun auch wieder nicht genutzt werden und zum anderen die Tarife der öffentlichen Kassen im Ausland in der Regel niedriger sind als hierzulande, entsprachen 2006 die „Kohll-Decker-Kosten“ der UCM nur 0,5 Prozent ihrer Ausgaben für in Luxemburg selbst durchgeführte ambulante Behandlungen. Dass man für stationäre Behandlungen im Ausland weiterhin Genehmigungen verlangen werde, war dagegen bisher sozialpolitisch so gut wie parteienübegreifender Konsens. Lediglich die DP versprach in ihrem Wahlprogramm 2004, sie abschaffen zu wollen.
Der Richtlinienvorschlag vom 2. Juli mit dem Aktenzeichen KOM(2008) 414 endgültig hält an dem alten Prinzip ebenfalls fest. Er definiert jedoch auch, was unter einer „Krankenhausbehandlung“ zu verstehen sein und wo die Grenze zwischen „stationär“ und „ambulant“ verlaufen soll. Dass dies endlich politisch entschieden werden müsse, verlangt der EU-Gerichtshof seit Jahren.
Die Definition aber ist nicht nur europaweit neu, sie ist für Luxemburg absolut systemfremd. Laut Kommission erfordert eine Krankenhausbehandlung „eine Übernachtung des Patien-ten für mindestens eine Nacht“. Darüber hinaus soll „eine Liste spezifischer Behandlungen“ auch solche enthalten können, für die keine Übernachtung nötig ist. Das wären entweder solche, „die den Einsatz einer hochspezialisierten und kostenintensiven medizinischen Infrastruktur oder medizinischen Ausrüstung erfordern“, oder die „ein besonderes Risiko für den Patienten oder die Bevölkerung“ bedeuten. Die Liste soll von der Kommission angelegt und gegebenenfalls vervollständigt werden.
Es stellt sich die Frage, ob die EU-Kommission so weit gehen würde, diese Liste an der Verordnung des Großherzogs von Luxemburg vom 17. Juni 1993 auszurichten. Diese zählt jene 21 Geräte und Ausrüstungen auf, deren Erwerb Ärzten und Zahnärzten für ihr cabinet médical untersagt ist; darunter etwa Magnetresonanz-Tomografen oder jegliches Gerät zur Verabreichung einer Vollnarkose. Dass die Kommission das tun könnte, ist nicht ganz wahrscheinlich. Denn in Deutschland zum Beispiel werden in Arztpraxen MRT-Scans durchgeführt, finden Operationen unter Vollnarkose statt. In Luxemburg dagegen gehört die Beschränkung solcher Aktivitäten auf die Kliniken zum Kern des Systems: Sie soll die freiberuflichen Mediziner interessieren, als Belegärzte an einem Spital tätig zu werden, und dass ihnen die schwere Technik dort unentgeltlich zur Verfügung steht, weil ihre Anschaffung von der Krankenkassenunion finanziert wurde, stellt eine Art Zusatzeinkommen dar. Kurz: Hierzulande gilt als „Krankenhausbehandlung“ jede Inanspruchnahme von Klinikressourcen.
Entsprechend groß ist die ambulante Leistungspalette, die Luxemburger künftig im Ausland nachfragen könnten – neben allen Behandlungen, die hiesige Spitäler bereits heute ambulant in Tageskliniken erbringen, auch so manche Operation, für die ein Patient hierzulande hospitalisiert wird. Da die EU-Richtlinie im ambulanten Bereich öffentliche und private Anbieter ausdrücklich gleichstellt und beiderlei Leistungen als von den Kassen eines anderen EU-Staats zurückzuerstatten erklärt, könnte sich eine Privatklinik jenseits der Grenzen auf bestimmte Operationen an all jenen vermutlich nicht wenigen Luxemburger Patienten spezialisieren, die bereit sind davon auszugehen, dass ausländische Spitäler generell besser seien als heimische. Die Luxemburger Kasse müsste dafür aufkommen, die Ärzte hierzulande verlören Patienten, die Spitäler an Aktivität und damit an den ihnen von der UCM zuerkannten Budgets: allein die bei ihnen ambulant erbrachten Behandlungen summieren sich auf 20 000 bis 30 000 pro Jahr.
Es ist nicht klar, ob Luxemburg sich dieser Definition entziehen kann, zumal sie sinnvoll sein und man eine Entwicklung einfach verschlafen haben könnte. „Le virage ambulatoire, en comparaison internationale, se fait lentement au GDL“, beklagte die 2006 vom Gesundheitsministerium veröffentlichte Carte sanitaire. Vielleicht gebe es zu viele Klinikbetten, sicher fehle es an finanziellen Anreizen, und leider wisse niemand genau, was an ambulanter Tätigkeit in den Spitälern läuft.
Damit bahnt sich eine gesundheitspolitische Diskussion an, die jene nach dem Kohll-Decker-Urteil des EUGh 1998 in den Schatten stellen dürfte. Damals widersetzte sich der Ärzteverband AMMD zum Entsetzen von Sozialministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) plötzlich der Aufstellung ärztlicher Verschreibungsprofile und verlangte von ihrem liberalen Nachfolger Carlo Wagner die Aufhebung der obligatorischen Bindung der hier praktizierenden Ärzte an die Krankenkassenunion. Denn weder unterliegt ein im Ausland praktizierender Arzt irgendwelchen Kontrollen seines Verschreibungsverhaltens von Luxemburg aus, noch sei die Bindung an die UCM und die geltende Tarifnomenklatur gerechtfertigt, wenn ein ausländischer Arzt den auf dem „zweiten Weg“ zu ihm gelangten Luxemburger Patienten alles mögliche in Rechnung stellen darf.
Diesmal geht es um noch mehr. Der Richtlinienvorschlag macht eindeutig die Mitgliedstaaten zuständig für Qualitätssicherung und -kontrolle in der Medizin – eine Vorentscheidung in dem hinter den Kulissen geführten Streit zwischen dem Gesundheitsminister und der AMMD über die Frage, ob die Krankenhausdirektionen in Zukunft Qualität und Risikomanagment in ihren Häusern kontrollieren dürfen (d‘Land, 20.06.2008).
Wie man zu mehr ambulanter Tätigkeit gelangen könnte, ist ebenfalls eine spannende Frage. AMMD-Präsident Jean Uhrig wirbt seit der letzten Krankenkassen-Quadripartite Ende April massiv für den Ausbau der ambulanten Chirurgie hierzulande. Offenbar jedoch meint er nicht das gleiche wie das Gesundheitsministerium: In seinem Konzept, das Uhrig auch in der neusten Ausgabe der AMMD-Zeitschrift Le corps médical publizierte, legt er den Akzent auf von den Kliniken unabhängige chirurgische Zentren, nicht aber auf mehr Tageschirurgie in den Spitälern. Wer aber sollte solche Zentren bezahlen, die eine Konkurrenz zu den Spitälern bilden würden, die noch nicht einmal alle fertig renoviert sind?
Nicht zuletzt verlangt der Richtlinienentwurf von den EU-Staaten, einen „Mechanismus für die Berechnung der Kosten [zu] schaffen, die dem Versicherten von der gesetzlichen Sozialversicherung für die Gesundheitsversorgung in einem anderen Mitgliedstaat zu erstatten sind.“ Was logisch klingt, ist finanzpolitisch nicht selbstverständlich: Bisher existieren in Luxemburg keinerlei Tarife für Komplettbehandlungen in Spitälern, die etwa den Gestehungspreis einer Hüftoperation wiedergeben. Da hierzulande die ärztlichen Akte separat mit der Krankenkassenunion abgerechnet werden und ebenso separat die Pflegeleistungen oder der Medikamenteneinsatz in jedem Spital, sind die Gestehungspreise auch sehr verschieden. Erstattet die UCM derzeit eine – von ihr vorab genehmigte – stationäre Auslandsbehandlung, zieht sie in Luxemburg ermittelte Durchschnittswerte heran.
Die EU-Kommission aber will, dass die Kostenberechnung sich auf „objektive, diskriminierungsfreie Kriterien, die vorab bekannt sind“ stütze. Was sich liest wie eine Vorschrift zur Festlegung der Nutzungsentgelte für Strom- oder Eisenbahnnetze im liberalisierten Handel mit Energie- und Transportleistungen in der EU, müsste hinauslaufen auf die Einführung so genannter Diagnosis Related Groups auch in Luxemburg. Diese „Fallpauschalen“ beinhalten eine feste Zuwendung von den Kassen an eine Klinik je nach bei ihr eingetroffenem Behandlungsfall. Solche Mechanismen sorgen für Kosteneffizienz, ihre Einführung wird Luxemburg in jedem OECD-Bericht empfohlen. Der Koalitionsvertrag von CSV und LSAP sieht vor, dass DRG-Systeme „studiert“ werden sollen, und bei der UCM geschieht das auch schon. Die Frage ist nur, wie weit man den Effizienzgedanken treibt. Selbst die OECD räumt in ihren jüngsten Études économiques – Luxembourg, die Erfahrungen ihrer Mitgliedsländer resümierend, zu DRG ein: „La durée moyenne des hospitalisations semble avoir diminué dans la plupart des cas, mais avec en contrepartie des sorties souvent prématurées.“
Was sich hier abzeichnet, ist ein EU-Gesundheitsmarkt, dem sich Luxemburg kaum wird entziehen können. Weil sich dort Verbraucher und Leistungserbringer begegnen, könnte sich schnell die Bestandsfrage für die solidarische Gesundheitsversorgung stellen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Luxemburger Spitäler auf diesem Markt kaum wettbewerbsfähig wären: Wegen der hohen Kosten für das Pflegepersonal mit staatlich assimiliertem Statut dürften ihnen wenige ausländische Kunden winken, denn zumindest öffentlich Versicherte hätten bei einer Behandlung in Luxemburg viel zuzuzahlen. Zum anderen ist nicht mal im Inland bekannt, für welches Angebot welches der heimischen Spitäler überhaupt steht.
Und daran könnte sich so rasch nichts ändern: Entgegen früherer Ankündigungen hat Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo im Vorentwurf zum neuen Spitalplan, der Anfang Mai in den huis clos der Ständigen Kommission für den Kliniksektor gereicht wurde, keine Vorschläge zur Bildung von Kompetenzzentren gemacht, zu denen sich die großen Spitäler entwickeln könnten, sondern lediglich den Status quo festhalten lassen.
Dafür verbreitete er Ende Juli die abenteuerliche These, für die unterbeschäftigte Maternité der Wiltzer Klinik, die nicht abzuschaffen er seinem Parteifreund, Bürgermeister Romain Schneider, gefällig sein will, könnte es „eine Chance“ darstellen (Luxemburger Wort, 26.07.2008), dass die Maternité von Bastogne vor der Auflösung steht. Was zu allem Überfluss noch daran zweifeln lässt, dass Luxemburg über das nötige politische Führungspersonal verfügt, um dem EU-Gesundheitsmarkt zu begegnen.
Aber vielleicht tritt die Richtlinie zumindest nicht so bald in Kraft: Im Europaparlament könnte sie Anfang 2009 zur ersten Lesung gelangen, doch danach sind Wahlen und die Lesungen könnten von vorn beginnen. Die EU-Kommission wechselt 2009 ebenfalls, und im Ministerrat kündigen sich schwierige Debatten an. Deutschland hat schon Widerstand angekündigt – der Entwurf sei „nicht streng genug“. Kann schon sein, dass die Beantwortung der Frage, was Strenge sein soll, wenn es um den Binnenmarkt geht, ein paar Jahre dauert.