Eine Idee geht ihren Weg: die von der Einführung des No-Fault-Prinzips für Gesundheitsdienstleister. Hinter ihr steht der Ärzteverband AMMD; er verfolgt sie schon seit gut zwei Jahren, machte sie aber erst im November 2007 öffentlich.
Seit Anfang des Jahres betreibt die AMMD intensiv Lobbyarbeit dafür: Bei den politischen Parteien von CSV und LSAP bis hin zur KPL, „weil uns daran liegt, dass die Parteien No Fault in ihre Wahlprogramme für 2009 aufnehmen“, sagt AMMD-Generalsekretär Claude Schummer; aber auch bei der Patientevertriedung asbl, beim Verband der Versicherungsgesellschaften Aca und bei der Krankenkassenunion UCM, denn sie alle müssten No Fault mittragen. Ebenso wie Gewerkschaften und Patronatsverbände als Verwalter der Krankenkassen – mit ihnen finden demnächst Gespräche statt.
No Fault würde zu einem Paradigmenwechsel beim Umgang mit Patientenklagen und Schadenersatzforderungen führen. Bislang muss der Patient nachweisen, dass ein Fehler begangen wurde, der mindestens ein Kunstfehler war, und dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem entstandenen Schaden und der jeweiligen Pflegeleistung besteht. Aufwändig und teuer kann das vor allem dann werden, wenn der Fall nicht im guten Einvernehmen mit dem Versicherer eines Arztes oder einer Klinik geklärt werden kann, sondern als Zivilklage vor Gericht landet: „In der Regel vergehen Jahre, ehe die Verhandlung eröffnet wird“, sagt AMMD-Präsident Jean Uhrig, „und neben den Anwaltskosten entstehen für eine Fachexpertise noch Kosten von mindestens 1 500 Euro.“ Das sei unsozial.
No Fault dagegen könne zu einer Win-win-Situation für Ärzte und Patienten führen, argumentiert die AMMD. Denn es unterstellt, dass in einem komplexen System wie dem Gesundheitswesen Fehler vorkommen und dass sie entschädigt gehören. In den skandinavischen Ländern hat das Tradition: Dort übernehmen „Patientenversicherungen“ den Schadenersatz gemäß einer fest stehenden Tabelle. Schon letzten Herbst rechnete die AMMD vor, dass in Schweden, Dänemark und Finnland zwischen 35 und 45 Prozent aller Patientenklagen auf diesem Weg befriedigt würden, ohne dass es die Antragsteller viel Zeit und Geld kostet.
Den Ärzten wiederum werde No Fault helfen, den auch hierzulande gestiegenen Prämien für Berufshaftpflichtversicherungen zu begegnen, hofft die AMMD. „Das ist ein europaweiter Trend, der uns Sorgen macht“, sagt ihr Präsident. In Frankreich etwa hätten bestimmte Facharztdisziplinen immer größere Probleme, überhaupt einen Versicherer zu finden. Da die Medizin jedoch „immer invasiver“ werde und das Risiko, sich einen therapeutischen Kollateralschaden einzufangen, immer weiter wachse, biete der Übergang vom derzeitigen Malpractice-Prinzip zu No Fault nicht nur dem Patienten Entschädigungssicherheit und dem Arzt bezahlbare Versicherungen, sondern sei geradezu zwangsläufig das Modell der Zukunft.
Die Argumentation der AMMD hat ihren Charme bereits entfaltet. Die LSAP habe sich „interessiert“ gezeigt, sagt Claude Schummer. Mit der DP habe der Ärzteverband noch nicht gesprochen, sagt der Abgeordnete und Ex-Gesundheitsminister Carlo Wagner, „aber ich persönlich sehe No Fault./span[gt] positiv und hatte, als ich Minister war, schon eine Arbeitsgruppe dazu bilden wollen“. Am weitesten geht der Support der CSV. Die Abgeordnete Martine Stein-Mergen, im Hauptberuf Notfallmedizinerin am CHL, arbeitet zurzeit an einem Gesetzesvorschlag zur Einführung von No Fault./span[gt]. Liegt er vor, dürfte ihm das wohlwollende Augenmerk zumindest von CSV-Ministern ziemlich sicher sein: An der Unterredung zwischen CSV und AMMD nahmen auch François Biltgen und Premier Jean-Claude Juncker teil. „Und unser bei diesem Treffen anwesendes Leadership fand, dass man das Anliegen der AMMD fördern könne“, teilt die CSV-Fraktion mit. Eventuell werde der Gesetzesvorschlag schon in ein paar Wochen fertig.
Könnte Luxemburg demnach noch in dieser Legislatur eine kleine gesundheits-, sozial- und versicherungspolitische Revolution erleben? No Fault wäre nicht nur ein bedeutender Wandel im Umgang mit Patientenklagen, sondern einer in der Haftpflicht generell. Seit dem Code civil Napoléon von 1806 trägt ein Schadensverursacher die Konsequenzen seines Handelns. Im Laufe der Industrialisierung hielt die présomption de responsabilité in die Zivilgesetzgebung Einzug: Der für die Aufsicht einer Maschine Verantwortliche haftet im Falle einer Fehlbedienung. Aus dieser Rechtsphilosophie folgt auch die Haftpflicht des Arztes – nicht für sein Therapieresultat, das dem Patienten ohnehin nicht garantiert werden kann, aber für die Mittel und Wege dahin. No Fault wäre die postindustrielle Fortsetzung und ein Übergang zum Kasko-Schutz des potenziell von Risiken und Nebenwirkungen Betroffenen.
Wie schwierig aber ein Umsteuern in einem Gesundheitssystem ist, das paritätisch finanziert wird und dessen Haftpflicht auf dem Malpractice-Prinzip basiert, hat sich in Belgien gezeigt, wo die Mitte letzten Jahres in Kraft getretene Loi relative à l’indemnisation des dommages résultant de soins de santé drei Mal jeweils neu entworfen wurde und mangels Ausführungsbestimmungen bis heute nicht wirksam ist – einerseits wegen der monatelangen Staatskrise zwar, andererseits, „weil die belgischen Versicherer Probleme mit dem neuen System haben“, sagt Paul Hammelmann, juristischer Berater beim Versichererverband Aca.
Und Probleme zeichnen sich hierzulande ebenfalls ab. Ginge es nach der AMMD, würde nach belgischem Vorbild ein Fonds des accidents soins de santé eingerichtet. Er würde Schadenersatzforderungen empfangen und gemeinsam mit den Versicherern der betroffenen Dienstleister über eine Entschädigung entscheiden, deren Zahlung sich Versicherer und Fonds anschließend teilen – nach einem vorher festgelegten Schlüssel. In Belgien wird der Fonds vom Staat, den Krankenkassen und den Patienten gespeist, die bei der Aufnahme in eine Klinik ein ticket modérateur erwerben. Eine solche Dreiteilung schwebt der AMMD sinngemäß auch für Luxemburg vor.
Allerdings haben die hierzulande sechs Versicherungsgesellschaften, die Haftpflichtversicherungen für Ärzte anbieten, bereits ihre Zurückhaltung angemeldet: Die Beteiligung der Versicherer an regelmäßigen Zahlungen werde die Haftpflichtprämien eher erhöhen als senken. Denn die ärztliche Berufshaftpflicht fiele mit No Fault nicht weg, und es sei schwer vorstellbar, dass einem Patienten verwehrt werden könnte, die festen Schadenersatz-Tarife abzulehnen, die eine No-Fault-Tabelle vorsehen würde, und den Arzt vor Gericht auf eine höhere Entschädigung zu verklagen. Und mehr noch: Je nachdem, wie groß der Anteil würde, den Fonds und Versicherer an den Entschädigungen jeweils zu zahlen hätten, könnte die Arzt-Haftpflichtversicherung schlimmstenfalls nicht mehr als gewinnträchtig angesehen und nicht mehr verkauft werden.
Allein diese Probleme dürften dafür sorgen, dass No Fault zu einem längerfristigen Vorhaben wird: Eine Entlastung der Privatversicherer wäre nur zu haben durch ein besonders starkes Engagement des Staates, der eigentlich seine Sozialausgaben senken will, der Krankenkassen, bei deren Verwaltern von der Patronatsseite schon der Anschein einer Beitragserhöhung die Alarmglocken läuten lässt – oder aber der Patienten, denen man eigentlich entgegenkommen will. Womöglich könnte die Win-win-Situation sich für sie nicht mehr so deutlich abzeichnen.
„Wir sind nicht prinzipiell gegen No Fault, aber wir meinen, es gibt Wichtigeres“, sagt René Pizzaferri, Präsident der asbl Patientevertriedung. Wichtiger wäre der rasche Aufbau einer nationalen Vermittlungsstelle, um die sich der Gesundheitsminister nach der CHL-Krise vom letzten Jahr bemüht: „Mit Mediation kann man schon jetzt viele Streitfälle lösen, anschließend werden sie zu den Akten gelegt und es gibt auch keine finanziellen Forderungen mehr“, sagt Pizzaferri, der „nicht so richtig erkennen“ kann, „worum es den Ärzten eigentlich geht“. Dringend geklärt gehöre außerdem die Organisation der Krankenhäuser und das Zusammenwirken der Ärzte untereinander sowie mit den Direktionen und einem médecin-coordinateur de service. Und die Frage, inwiefern die Kliniken auf organisierte Weise Qualität produzieren.
Das leuchtet ohne weiteres ein, wenn in einer Eurobarometer-Umfrage im Jahr 2006 drei Viertel der befragten Luxemburger meinten, dass „medizinische Fehler“ in ihrem Land „ein Problem“ darstellen würden, 47 Prozent bekannten, der Gedanke, Opfer eines „schweren Fehlers“ zu werden „beunruhige“ sie, und 55 Prozent fanden, Krankenhauspatienten müssten beunruhigt sein. Ausdruck schlechter Zustände muss das nicht sein, wohl aber von mangelnder Transparenz.
AMMD-Präsident Jean Uhrig ist nicht der Ansicht, dass die Organisationsfrage in den Kliniken beantwortet werden müsse, um Qualität zu garantieren, und dass dies vor der Einführung von No Fault nötig sei: Aufgabe einer Klinikdirektionen sei es, den Ärzten ein optimales Arbeitsumfeld bereit zu stellen. Dann wüssten die Mediziner selbst am besten, was sie zu tun hätten.
Aber das Problem ist komplex: Schon seit 2005 debattieren AMMD und Klinik-Dachverband EHL über die Organisationsfrage der ärztlichen Tätigkeit an den Spitälern, ohne sich einig zu werden. Weil Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo bis heute nicht so weit gehen wollte, eigene Vorstellungen zu formulieren und durchzusetzen, liegt das Dossier – nach einem Intermezzo im Gesundheitsministerium – nun wieder bei Ärzteverband und Krankenhaus-Entente: am 19. Mai werden beide Seiten versuchen, sich auf eine Definition des Krankenhausmediziners zu einigen, die derzeit in keinem Rechtstext existiert, und so dem Ministerium zuzuarbeiten.
Bei dieser Gelegenheit wird die AMMD die EHL auch über ihre No-Fault-Ideen informieren. Erstmals werden beide Seiten dann ausführlich über dieses Thema reden – was schon auf bestehende Meinungsverschiedenheiten hindeutet. Dabei wären die Kliniken ein erstrangiger Ko-Akteur, wenn es um No Fault geht: Zum einen würde das System erlauben, in den Häusern zu einem ganz neuen, weil offenen Umgang mit Fehlern zu kommen: Sind Ärzte die Befürchtung, haftungsrechtlich verfolgt zu werden, zum größten Teil los, sind sie viel eher bereit, sich der kritischen Auseinandersetzung mit ihren Kollegen zu stellen. Dass eine „nicht punitive Betriebskultur“ eine wichtige Voraussetzung sei für ein Critical incident report system in den Kliniken, legte Mai im letzten Jahres auf einer Journée Qualité im Ettelbrücker Saint-Louis-Krankenhaus der deutsche Medizinprofessor Matthias Schrappe, der auch Vorsitzender des Aktionsbündnisses Patientensicherheit ist, seinen Zuhörern dar.
Fragt sich nur, ob dieser Schritt nicht erst dann gegangen werden kann, wenn klar ist, wessen Verantwortung wo beginnt und wo aufhört: Auch versicherungstechnisch ist ärztliches Tun schwer vom Umfeld zu trennen, „und nicht selten streitet die Haftpflichtversicherung eines Arztes mit der eines Krankenhauses über den Schuld-Anteil der jeweiligen Partei“, sagt Paul Hammelmann. Was streng genommen hieße, dass No Fault allein für den Arzt gar nicht funktioniert.
Offenbar sind solche Gedanken auch der CSV-Fraktion nicht fremd, die mit ihrer Initiative ein wenig vorgesprescht ist: Dafür sorgen, dass No Fault das heimische Kliniksystem undurchsichtig macht und dem Arzt Verantwortung abnimmt, will man keinesfalls. „Aber einzelne Entschädigungen könnte man vorsehen – etwa für die so genannten nosokomialen Infektionen, die man sich im Krankenhaus zuziehen kann“, sagt Fraktionssekretär Frank Engel.
So dass No Fault als Thema die Wahlen überdauern dürfte, für die CSV jedoch immerhin den Vorteil bieten könnte, im Wahlkampf mit einer originellen positiven Aktion aufzuwarten. Und nach Sterbehilfe klingt No Fault zum Glück ebenfalls nicht.