Am gestrigen Donnerstag, dem Tag nach der Sitzung der Krankenkassen-Quadripartite, meldeten die Zeitungen, die Beiträge zur Krankenversicherung würden nächstes Jahr nicht steigen. Denn Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) hatte auf dem Pressebriefing nach der Quadripartite erzählt, was die Regierung längst im Budgetgesetz festgehalten hat, das den Entwurf zum Staatshaushalt 2010 begleitet: Das 90-Millionen-Euro-Defizit der Krankenversicherung soll ausgeglichen werden, indem einmal, und nur diesmal, die gesetzlich vorgeschriebene Cash-Reserve der Krankenversicherung um knapp die Hälfte gekürzt und für den Fall der Fälle der Kranken- eine Kreditlinie bei der Pflegeversicherung eingerichtet wird.
Nur Pierre Bley, der Generalsekretär des Arbeitgeberverbands UEL, beschwerte sich anschließend darüber und hätte die 90 Millionen lieber einzusparen versucht, ehe man die Reserven antastet. Unrecht hat er insofern nicht, als das Defizit nächstes Jahr vor allem durch den krisenbedingten Beschäftigungsabschwung droht. Um 0,6 Prozent werde die Beschäftigung 2010 gegenüber 2009 sinken, nimmt die Regierung im Staatshaushaltsentwurf an. Dieses Jahr dürfte sie noch um ein Prozent gegenüber 2008 wachsen. Aber das verdeutlicht nur, was die Erfahrung lehrt – dass ein Job-Zuwachs einem BIP-Zuwachs mit neun bis 12 Monaten Verzögerung folgt. Steigt das BIP im kommenden Jahr um ein bis 1,5 Prozent, wie die Regierung hofft, so gibt es 2011 womöglich noch immer gar kein Job-Wachstum und in der Krankenversicherung drohte, weil die Reserven aufgebraucht sind, dann ein 200-Millionen-Loch (siehe auch d'Land, 25. September 2009).
Doch wenn man die Gesetzgebung über die Krankenversicherung wörtlich nimmt, dann gehen kurzfristige Einsparfragen die Quadripartite gar nichts an. Vielmehr hat die Viererrunde aus Vertretern von Regierung, Sozialpartnern und Dienstleistern eine politische Rolle, und Politik wurde am Mittwoch mehr gemacht als in den Sitzungen zuvor. Im Gesundheitswesen geht es derzeit um so viel Politik, dass der Sozialminister sogar jenem Gremium die Entscheidung über die Defizitbehebung abnahm, das laut Gesetz darüber befinden müsste: Im Direktorium der Gesundheitskasse CNS wurden weder Spar-Szenarien für 2010 noch der Griff zur Reserve diskutiert.
Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Alternative – Beitragserhöhungen – auch das Staatsbudget belastet hätte, weil die Sozialtransfers automatisch mit dem Beitragsvolumen wachsen. Aber Mars Di Bartolomeo unterliegt derzeit wenigstens noch zwei politischen Zwängen: Zum einen ist die EU-Richtlinie über die grenzüberschreitenden Patientenrechte zwar noch nicht verabschiedet und wurde vom Europaparlament bei der ersten Lesung im April mit zahlreichen Änderungen versehen. In einem Punkt aber dürfte sie sich nicht mehr ändern: EU-weit soll künftig jede medizinische Leistung im Preis vergleichbar sein.
Vom Full-cost-Prinzip und systemweit einheitlichen Preisen aber ist das Luxemburger Gesundheitswesen noch weit entfernt; da stehen Krankenhäuser, in denen ein und dieselbe Leistung zum Teil sehr verschiedene Gestehungskosten verursacht, neben einem Tarifkatalog für die Mediziner, der alt, nicht für jede Fachdisziplin vollständig und nicht gegenüber jedem Arzt gerecht ist. Am Mittwoch wurde vereinbart, die Nomenklatur zu reformieren und Transparenz in die Klinikbudgets zu bringen.
Das allein sind politisch anspruchsvolle Vorhaben. Sie sind nicht unbedingt neu und standen schon in der vergangenen Legislaturperiode im Raum, sie anzupacken scheute Di Bartolomeo sich jedoch. Nun macht die EU Druck, die Krise ebenfalls. Das Statut der Klinikärzte definieren und die Haftungsfrage in den Spitälern klären will der Minister ebenfalls. Und er will eine „Föderierung“ der Spitäler, die Kompetenzen bündelt und Geld sparen hilft. Über so viel Politik zu reden, wäre am Mittwoch bestimmt schwerer gefallen, wenn die Quadripartite noch Budgetdebatten geführt hätte.
Der andere politische Zwang, dem Di Bartolomeo unterliegt, besteht darin, seiner Partei zu helfen, sich als die den Sozialstaat bewahrende Kraft in der Regierungskoalition zu inszenieren. Welche Wirkung die sozialpolitische Achse mit der größten Gewerkschaft derzeit hat, zeigt, dass nur einen Tag vor der Quadripartite der OGB-L der Presse von einem Treffen mit dem Sozialminister nicht nur mitteilen konnte: „Pour le ministre une réduction des prestations ou bien une augmentation de la participation des assurés n’est pas à l’ordre du jour.“ Sondern auch, dass sich Minister und OGB-L „einig“ seien, dass sich über 2010 hinaus die Frage „zusätzlicher Einnahmen“ stelle, und nicht etwa ein Ausgabenproblem.
Die Frage könnte natürlich die sein, wo der Minister die in einem Jahr vermutliche fehlenden 200 Millionen aufzutreiben versuchen würde. Die vielen Reformvorhaben, zu denen bis zum Frühjahr drei Arbeitsgrguppen erste Empfehlungen machen sollen, wirken viel zu langfristig, als dass sich aus ihnen ein ausgeglichener CNS-Haushalt 2011 ergeben könnte. Und es ist nicht so klar, was der Minister unter „zusätzlichen Einnahmen“ versteht: Ihm sei bekannt, dass viele Leute sich mittlerweile privat zusatzversichern, und es müsse „auch jeder Einzelne sich fragen, was ihm hochwertige Gesundheitsleistungen wert sind“, meinte er am Mittwoch. Inwieweit das ein Plädoyer für Zusatzversicherungen war, ließ er offen. Vielleicht klärt es sich, wenn die Regierung in einem Jahr deutlicher sagen kann, was sie unter einer „selektiveren Sozialpolitik“ verstehen will.