Dass im Laufe von Sozialverhandlungen die Arbeitgeberseite Saalflucht begeht, kommt weit seltener vor, als dass die Arbeitnehmerseite das Gespräch abbricht. So geschah es Anfang dieser Woche, als die Postdirektion den Gewerkschaftsvertretern ihr Strategiepapier Agenda 2012 schmackhaft machen sollte. Mit dem Papier will sich die ehemalige Verwaltung auf das Stichdatum 2013 vorbereiten, wenn auf Beschluss der Europäischen Union die letzten Hürden für die Konkurrenzwirtschaft im Postbereich fallen sollen.
Die ablehnende Haltung der Gewerkschaften ist leicht nachvollziehbar. Sie wollen sich dagegen wehren, dass klassische Postberufe, wie derjenige der Briefträger, zu Mindestlohn-Beschäftigungen werden, und die bisherigen Pilotversuche machen nicht gerade Hoffnung auf eine Verbesserung des Postdienstes. Deshalb wollen die Gewerkschaften die Verbraucher für ihre Sache gewinnen, indem sie sie zu überzeugen versuchen, dass der mit der Liberalisierung beabsichtigte Preisdruck den gewerblichen Großkunden zugute kommt, während an den arbeitsintensiven Dienstleistungen zugunsten der Privathaushalte gespart und der Schutz des Potsgeheimnisses vernachlässigt wird. Von diesen Warnungen überzeugt zeigte sich schon diese Woche der Gemeindeverband Syvicol. Denn viele Bürgermeister befürchten, dass die inzwischen nur noch stundenweise für Rentner und Hausfrauen geöffneten Postbüros in ihrer Gemeinde bald ganz geschlossen werden.
Dass aber die Postdirektion die Nerven verliert, hat auch seinen Grund. Sie fühlt sich in der unbequemen Lage, die Beschäftigten von einer Unternehmenspolitik überzeugen zu müssen, an die sie selbst nicht glaubt. Denn obwohl sie sich bisher im Fernmeldebereich erstaunlich gut gegen neue Konkurrenten behaupten konnte, hat sie im Brief- und Paketverkehr das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen und sich an eine Liberalisierung anpassen zu müssen, die sie für ökonomisch unsinnig hält.
Tatsächlich hält die Liberalisierung bisher keineswegs, was sie der Masse der Privatkunden verspricht. Das gilt nicht nur für die völlige Abwesenheit von Kundendienst und die seeräuberische Tarifstruktur im Handygeschäft. Ein Privathaushalt, der noch in der Nacht von der Messagerie postale seine Luxemburger Tageszeitung, dann am frühen Morgen von der Messagerie Paul Kraus seine ausländische Tageszeitung, am späten Morgen vom Briefträger seine Briefe geliefert und im Laufe des Tages von zwei verschiedenen privaten Kurierdiensten zwei Päckchen vorbeigebracht und – weil tagsüber niemand zu Hause ist – wieder mitgenommen bekommt, darf zumindest bis zur so forcierten Marktbereinigung Zweifel an der Wirtschaftlichkeit und dem ökologischen Charakter dieser Liberalisierung hegen. Auch dass die Post und die Regulationsbehörde inzwischen umfangreiche Bürokratien aufgebaut haben, um eine nie versiegende Flut von Berichten über die Wettbewerbsbedingungen auf der einen Seite zu schreiben und auf der anderen Seite zu lesen, entspricht nicht der landläufigen Vorstellung von Liberalisierung.
Die ebenfalls alles andere als von den Brüsseler Liberalisierungsrichtlinien begeisterte Regierung verhält sich unterdessen sehr schweigsam und verweist darauf, dass die Post inzwischen eine selbstständige Wirtschaftseinheit ist – auch wenn sie ihr gleichzeitig den Ausbau des Bankgeschäfts oder Tariferhöhungen verweigert. Immerhin sieht der Staatshaushalt für das laufende Jahr eine staatliche Beteiligung am Post-Gewinn von 20 Millionen Euro vor, über die sich in diesen Defizitzeiten niemand beklagt.