Mars di Bartolomeo habe „eine 180-Grad-Wende vollzogen“ und „seinen Diskurs total geändert“. Dass die Grünen den jüngsten Aussagen des Sozialministers zum Pensionssystem eine ganze Pressekonferenz widmen würden, war beinah zu erwarten gewesen. 2001 am Rentendësch waren sie neben den Patronatsvertretern die einzigen, die meinten, was man dort an strukturellen Rentenaufbesserungen für den Privatsektor dabei war zu beschließen, sei langfristig nicht finanzierbar.
Anders als zuvor war der Diskurs des LSAP-Sozialministers tatsächlich, als er am Montag vor einer Woche die Lage der Sozialversicherung insgesamt erörterte. In der vorigen Legislaturperiode wandte er sich angesichts der Milliardenreserven der Na-tionalen Pensionskasse stets gegen „Panikmache“. Und weil die Tripartite 2006 eine „Reflexionsgruppe“ zum Pensionssystem einzusetzen beschlossen hatte, verwies er immer wieder darauf, dieser Think tank der Sozialpartner und des Sozialministeriums werde „mit kühlem Kopf und ruhiger Hand“ die Stärken und Schwächen des Systems ermitteln und anschließend „Reformpisten“ vorschlagen.
Damit verhinderte er fünf Jahre lang, dass die Rentenfrage politisiert werden konnte. Was Änderungen am System ebenso ausschloss wie einen Rentendësch II der Parteien, der womöglich zu weiteren Aufbesserungen geführt hätte. Nun politisiert der Minister die Rentenfrage selbst, wenn er, wie am 25. Januar im RTL-Fernsehen, sagte: Die erworbenen Pensionsrechte der derzeitigen Rentner stünden nicht in Frage, die anteilig erworbenen Rechte der derzeit Aktiven ebenfalls nicht. – Das heißt für Letztere, dass ihre Renten in der Höhe der aktuellen Rentenversprechen nicht mehr sicher sind.
Bemerkenswert ist auch, dass der Minister Reformvorschläge schnell machen will. Nicht bis zum Jahresende, wie vergangene Woche angedeutet: Dem parlamentarischen Sozialausschuss sollen die Grundzü-ge einer Pensionsreform schon am 4. März unterbreitet werden und ein Gesetzentwurf nach den Sommerferien ans Parlament gehen. Das ist sehr ehrgeizig angesichts der Tragweite und der politischen Sensibilität des Vorhabens. Ganz abgesehen von der Frage, ob die Regierung eine Pensionsreform tatsächlich noch vor den Gemeindewahlen zur Abstimmung bringen würde.
Doch für Mars Di Bartolomeo und die LSAP kommt es gerade jetzt darauf an, sozialpolitisches Durchsetzungsvermögen zu demonstrieren: Gäbe es kein Pensionsreformvorhaben, und würden nicht schon seit Spätherbst vergangenen Jahres Änderungen an der Krankenversicherungsgesetzgebung diskutiert, könn-te es sein, dass in diesen Fragen die Tripartite übernimmt. Einzelne Patronatsorganisationen, wie etwa die Fedil, haben darauf schon gepocht; vor allem, wenn es um das Pensionssystem geht.
So aber hat Di Bartolomeos Reformeifer dazu geführt, dass die Sozialversicherung kein großes Thema der Tripartite bilden wird. In der CSV-Fraktion tut man sich zwar nicht einheitlich leicht damit, es einzuräumen, doch anscheinend ist sich die Regierungskoalition einig, dass über die Sozialversicherung nur diskutiert werden soll, wenn ein allen drei Seiten gemeinsamer „Perimeter“ berührt wird. Das betrifft vor allem die Beiträge, denn beim derzeit geltenden Mechanismus für die Staatsbeteiligung an Kranken- und Pensionsversicherung steigt der Fiskalanteil automatisch mit, wenn die Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten erhöht werden. Dagegen soll die Reformpolitik als solche im Gesundheits- und im Pensionswesen der Sozialminister alleine verantworten.
Politisch ist das für die LSAP eine Erleichterung. Besser, ein LSAP-Sozialminister ist Herr im eigenen Haus, als eine Rentenreform, die in der Tripartite formuliert würde, an der das Patronat mitschriebe und die am Ende vielleicht vom CSV-Premier gedealt würde. LSAP-Basis und OGB-L wäre das schwer vermittelbar.
Ebenfalls erfreulich ist für die Sozialisten, dass die ominöse „selektive Sozialpolitik“, die laut Koalitionsvertrag das Ausgabenwachstum bei den staatlichen Sozialtransfers „bremsen“ soll, offenbar noch nicht an der Sozialversicherung exekutiert werden soll: Erstens, weil sonst Di Bartolomeos Reformen vorgegriffen würde, zweitens, weil beim christlich-sozialen Koalitionspartner noch keine Einigkeit besteht über den nötigen Grad an Selektivität in den von seinen Ministern geleiteten Sozialressorts. Es ist ja nicht schwer, Mammerent, Chèques-service oder die nur von der Kinderzahl im Haushalt abhängige Zinsbonifikation für Eigenheimbesitzer mit laufendem Hypothekendarlehen eher als jene staatliche „Nikolausgeschenke“ anzusehen, von denen Finanzminister Luc Frieden während der Haushatsdebatten im Dezember sprach, als die Fiskaltransfers an Gesundheits- und Pensionskasse.
Was natürlich die Frage aufwirft, wo die Regierung denn zu sparen gedenkt, wenn nicht allein bei den Funktionskosten des Staates, die zu senken jedes Ministerium, jede Verwaltung dringend gehalten ist. Aber Einschnitte in den Sozialstaat würden auch die CSV als Volkspartei strapazieren.
Doch wenn der Sparzwang so eindeutig nicht sein sollte, schlösse sich die Frage an, welche Pensionsreform welchen konkreten Inhalts der Sozialminister denn so schnell durchziehen will. Die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) ging im April 2009 in ihrem Lagebericht zum Pensionssystem an die Renten-Reflexionsgruppe noch von weniger Reformeifer aus sein: Eine Pensionsreform könne, wie in Schweden, schon mal zehn Jahre dauern, schrieb sie.
Noch sind keine Einzelheiten über die Reformpläne Mars Di Bartolomeos bekannt. „Priorität“ hat für den ihn, dass es künftig eine Vollrente erst nach „40 effektiven Beitragsjahren“ geben soll. Falls das hieße, sämtliche Anwartschaftszeiten zu streichen, die auf eine Lehre und ein Studium angerechnet werden, dann stiege für Arbeitnehmer mit Hochschulabschluss das Renteneintrittsalter auf weit über 60 Jahre, bemerkte déi Lénk vergangene Woche ganz zu Recht. Doch ob er so weit gehen will, hat Di Bartolomeo noch ebenso wenig erklärt, wie die Regierung es in ihrem Koalitionsvertrag getan hat und CSV und LSAP es in ihren Wahlprogrammen präzisierten.
Wie mit den vielen künftigen Rentenbezieherinnen verfahren werden soll, von denen laut Statistiken die wenigsten jemals 40 Beitragsjahre aufweisen werden, hat ebenfalls noch niemand gesagt: Sollen die sechs Jahre Ersatzzeit kassiert werden, die einer Frau pro Kind zustehen, will Di Bartolomeos Vorgänger Carlo Wagner, der Held des Rententischs, in einer parlamentarischen Anfrage wissen, und fragt in der bisher einzigen Wortmeldung der DP zum Thema anzüglich, ob die neuen Regeln schon am 1. Januar 2011 in Kraft treten sollen.
Dass diese Fragen so heikel sind, dürfte der Grund dafür sein, dass die CSV es vorzog, in ihrem Wahlprogramm von den „40 tatsächlichen Versicherungsjahren“ vorsichtshalber nicht im Kapitel Sozial Sécherheet: Solidaritéit op Generatiounen eraus zu sprechen, sondern sie im Abschnitt Méi Beschäftegung fir méi Leit zu verstecken. Aber politisch noch mehr Zündstoff liegt in dem vom Sozialminister angedeuteten Vorhaben, die Rentenversprechen zu beschneiden.
Dass Einzelmaßnahmen nicht ausreichend wären, hatte im Sommer die Union des entreprises in einer Renten-Studie zu zeigen versucht. Man müsse „ehrlich genug sein, dass wenn in der Praxis Situationen eintreten, die man heute noch vernachlässigen kann, dass da die Lebensarbeitszeit und auch die Pensionsleistungen davon beeinflusst werden“, drückte es der Sozialminister im Fernsehen umständlich aus. Insbesondere hierüber ist die Kontroverse mit den Gewerkschaften programmiert; trotz aller Konsenspflege, die der Minister bis zum Sommer 2009 in der Renten-Reflexionsgruppe betrieben hat.
Denn die Entwicklung der Rentenversprechen ist seit über 20 Jahren die Geschichte einer versuchten Annäherung der Privatpensionen an die der Staatsbeamten. Sie begann, als 1986 mit dem „Härtefallgesetz“ den öffentlich Bediensteten bescheinigt wurde, Härtefälle zu sein, und ihre Endgehälter pauschal um sechs Prozent erhöht wurden. Die Beamtenpensionen stiegen um dieselbe Rate, denn sie werden auf das Endgehalt berechnet. Daraufhin setzten ein Jahr später OGB-L und LCGB eine siebenprozentige Aufbesserung für alle Pensionen im Privatsektor durch. Ursprünglich war diese Aufbesserung nur als Vorschuss auf kommende Jahre gedacht. Doch im Wahlkampf 1989 wurde sie zum beherrschenden Thema, und die aus den Wahlen hervorgegangene Santer-Poos-Regierung willigte ein, den Privat-Pensionären die sieben Prozent zu schenken.
Anschließend kam es von 1991 bis zum Rentendësch 2001 zu drei weiteren strukturellen Aufbesserungen. Schrieb IGSS 1983, langfristig werde der Finanzierungsbedarf der Umlagerente bei 33 bis 40 Prozent der beitragspflichtigen Lohnmasse liegen, ging sie in ihrem Bericht an die Renten-Reflexionsgruppe von 60 Prozent aus (d’Land, 24. April 2009). Zurzeit liegt der Beitragssatz bei 24 Prozent. Dank des spektakulären Beschäftigungszuwachses hat er sich seit 1976 nicht mehr geändert.
Hierin liegt die große politische Herausforderung: Dass die zahlenmäßige Relation zwischen Rentnern und Beitragszahlern sich im Laufe der 2030-er Jahre wieder dem Stand von 1985 nähern würde, war schon vor fünf Jahren dem letzten aktuariellen Bericht der IGSS zum Rentensystem zu entnehmen. Die Pensionen der 2030-er Jahre aber sind mit Versprechen verbunden, die um 29 Prozent über denen liegen, die 1985 galten.
Hinzu kommt: Als sich 1983 der Langfrist-Finanzierungsbedarf von 33 bis 40 Prozent auf der Lohnmasse abzeichnete, waren Patronat und Gewerkschaften im Wirtschafts- und Sozialrat wenige Jahre zuvor überein gekommen, dass die Beitragshöhe von 24 Prozent auf 30 Prozent der Lohnmasse steigen dürfe. Womöglich wäre damit das damalige System bei der später mehr als günstigen Beschäftigungsentwicklung langfristig finanzierbar geblieben. Heute hingegen müssten angesichts der seitdem gestiegenen Rentenversprechen die Beiträge theoretisch von 24 Prozent auf 60 Prozent der Lohnmasse steigen – ohne dass irgendein Konsens der Sozialpartner über eine noch so geringe Erhöhung in Sicht wäre.
Damit stellt sich vor allem die Frage, ob auch weiterhin Pensionen, deren Maximalhöhe – indexiert und regelmäßig an die Reallohnentwicklung angepasst – nahezu fünf Mal den Mindestlohn betragen kann, versprochen werden können. Falls die Antwort Nein lauten sollte, müsste für jetzige Beitragszahler mit ihren „noch nicht erworbenen Pensionsrechten“ irgendeine weiche Landung gefunden werden. Doch das könnte den Konflikt zwischen Beamten- und Privatpensionen erneut aufleben lassen. Und da haben die Parteien am meisten zu gewinnen, die in der Opposition sitzen.