EU-Energiekommissar Günther Öttinger schaute kürzlich mal in die Zukunft: „Ich möchte wetten, dass einmal ein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin im nächsten Jahrzehnt mit dem Kollegen aus Paris auf Knien nach Ankara robben wird, um die Türken zu bitten, ‚Freunde, kommt zu uns!‘“ Was Öttinger inspiriert hatte, so über die europäisch-türkischen Wechselspiele zu räsonieren, war die bevorstehende Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Februar in die Türkei gewesen. Öttingers Prognose kam nicht so gut an in der europäischen Politik.
Merkels christ-demokratischer Parteifreund spielte nämlich unverhohlen darauf an, dass in den letzten Monaten immer mehr Signale aus Ankara Richtung Brüssel kommen, die eine Umorientierung der Türkei andeuten. In Ankara gab es schon immer einflussreiche Akteure, die auf der Suche nach Alternativen zu Brüssel waren. Vor allem die mächtige Armee des Landes, aber auch die bisherigen Eliten am Bosporus fühlen sich seit der Machtübernahme der islamistischen Erdogan-Regierung vom Westen verraten und schielen Richtung Osten.
Die Euro-Krise hat diese Stimmung beflügelt. Während Europa vergeblich seine Währung zu retten versucht, boomt die türkische Wirtschaft. Dieser Umstand verwirrt viele Türken. „Warum“, fragen sich viele, „sollen wir uns einer Wirtschaftszone anschließen, die auf dem Sterbebett liegt?“ Sie vergessen gerne, dass der Türkei allein der EU-Betrittsprozess zu heftiger Kapitalzufuhr aus dem Ausland verhalf und Motor des türkischen Wirtschaftsbooms ist.
Türkische Eliten schwadronieren lieber über angeblich einfachere Wege, die das Land einschlagen könne, als ausgerechnet den beschwerlichen in die EU, der anstrengende Reformen erfordert. Sie suchen nach Modellen, die den wirtschaftlichen Erfolg garantieren könnten, ohne das gegenwärtige autoritäre System zu entmachten. Auf ihrer Suche schauen sie immer zuversichtlicher nach Russland oder auf den Iran, aber vor allem nach China.
Immer mehr Konservative rücken entschieden auf ins Lager des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der ihre „östlichen Fantasien“ zu bedienen weiß. Im Juli letzten Jahres witzelte Erdogan gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin noch: „Nehmt uns auf in die Schanghai-Fünf, dann vergessen wir die EU!“ Er meinte die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit – ein Bündnis mehrerer asiatischen Länder mit China und Russland an der Spitze. Ende Januar erinnerte Erdogan in einer türkischen Fernsehsendung an seinen Witz – diesmal schien er es aber ernst zu meinen.
Schon längst ermuntern die selbstbewussten Unternehmer aus Anatolien, die so genannten Tiger Anatoliens, Erdogan, sich nach Osten und Süden zu orientieren. Die konservativ-religiösen Neureichen selbst tätigen seit Jahren in Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika Investitionen mit hohem Risiko. Damit verdienen sie viel Geld, weil es dort so gut wie keine Konkurrenz aus dem Westen gibt.
Ihr Erfolg und ihre Visionen verleiten die Regenten in Ankara dazu, von der Neuentstehung einer Art Osmanischen Reiches zu träumen. Die wirtschaftliche Infiltration der östlichen Region wollen sie zu einer politischen Einflussnahme ausbauen. Da der Westen, spätestens seit den Abenteuern des ehemaligen US-Präsidenten George Bush, in dieser Region an Ansehen verloren hat, stößt die türkische Regierung mit ihrem muslimischen Ministerpräsidenten auf Sympathie.
Erdogan selbst kommt das gut zupass. Er will im eigenen Land ein autoritäres Präsidialsystem einführen und sich vom Wahlvolk zum ersten türkischen Präsidenten küren lassen. Um die dafür notwendige politische Unterstützung zu organisieren, wirbt er in alle Richtungen. Weil er daheim erst bei den Liberalen und dann bei den Nationalisten scheiterte, wandte er sich zuletzt den Kurden zu, gegen die der türkische Staat seit einem Vierteljahrhundert Krieg im eigenen Land führt.
Die Erdogan-Regierung hat Verhandlungen mit dem inhaftierten Kurdenführer Abdullah Öcalan aufgenommen, mit dem Ziel, den Bürgerkrieg zu beenden und die kurdische Frage endgültig zu lösen. Sollte dies tatsächlich gelingen, wäre eines der größten Hindernisse auf dem Weg in die EU beiseite geräumt. Die Chancen einer EU-Mitgliedschaft wären dann am Ende so gut, dass selbst Erdogans Ego-gesteuerte Debatte um ein autoritäres Präsidialsystem die Beziehungen zu Brüssel nicht mehr nachhaltig beschweren würde.
Trotz des Erfolgs in anderen Teilen der Welt, bleibt die EU immer noch die beste Alternative für das aufstrebende Land am Bosporus. Der jungen türkischen Bevölkerung werden demokratische Rechte immer vertrauter. Die türkische Wirtschaft ist nach wie vor mit der europäischen eng verflochten. Ohne immense politische und wirtschaftliche Zerreißproben kann sich die Türkei von der EU und dem Westen gar nicht abwenden. Im globalen Konkurrenzkampf ist eine Integration in die EU sogar der realistischste Weg.
Ausgerechnet die europäischen Politiker haben mit ihrem Geziere und ihrer Kritik dazu beigetragen, dass sich die Türkei anstrengt – und zwar mit Erfolg. Wenn es wirklich so kommt, wie viele in der EU längst vermuten, nämlich dass die Türkei im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts endlich Mitglied der EU wird, dann wird sie eines der jüngsten, international einflussreichsten und wirtschaftlich stärksten Länder des europäischen Clubs sein. Obwohl diese Perspektive manchen Konservativen in Europa noch immer eher Angst einjagt, sind die Aussichten für die Türkei gut – auch in Europa.