Vor dem Hintergrund des Umsturzes in Tunesien und des Aufstands in Ägypten sorgten sich mehrere Minister in den vergangenen Tagen um die Vereinbarkeit von Politik und Moral. Sie hatten sich nämlich von grünen Politikern, sympathisierenden Journalisten und aufgebrachten Stammtischen Kritik an ihren Beziehungen zu autoritären Regimen anhören müssen. Wobei sich keiner der sorgfältig zwischen bösen Politikern und guten Bürgern unterscheidenden Kritiker um die politische Moral der täglich in den Fernsehnachrichten vorgeführten Luxair-Kunden schert, die auf ihr Recht pochen, sich bis zum bitteren Ende in autoritären Regimen zu sonnen.
Premier Jean-Claude Juncker sah sich jedenfalls am Freitag gezwungen, der nationalen Presse ausufernd zu erzählen, wie mutig und geschickt er seit Jahrzehnten in China immer wieder auf die Menschenrechte zu sprechen käme, auch wenn es kontraproduktiv sei, dies immer an die große Glocke zu hängen. Wirtschaftsminister Jeannot Krecké wehrte sich am Montag entrüstet vor einem parlamentarischen Ausschuss gegen Vorwürfe, dass er im Interesse der Exportwirtschaft und ihrer Arbeitsplätze nicht davor zurückschrecke, autoritäre Regime zu hofieren. Und Außenminister Jean Asselborn bedauerte am selben Tag in Brüssel vor der internationalen Presse gekonnt naiv, dass die um das Schicksal des ägyptischen Präsidenten bangende Europäische Union „ein wenig vergessen“ habe, dass in den arabischen Ländern „Leute leben, die auch Demokratie und das Recht auf Selbstbestimmung wollen“.
Was der Außenminister meinte: Im Umgang mit uns freundlich gesinnten und Handel mit uns treibenden Diktaturen wird sich erst an die Menschenrechte erinnert, wenn der lokale Autokrat schon dabei ist, seine Macht zu verlieren. Deshalb wurde vor einem Monat Minister Krecké kritisiert, weil er Tunesien während des Umsturzes besuchen wollte, nicht aber vor zwei Monaten Minister Juncker, der Tunesien vor dem Umsturz besucht hatte. Und niemand beanstandete die vor 14 Tagen mit dem Luxembourg-Saudi Arabia Business Council verstärkten Beziehungen zu Saudi-Arabien, dessen einstweilen stabiles Regime Ägypten als liberale, weltoffene Demokratie erscheinen lässt. Auch käme kein Menschenrechtsfreund auf die Idee, aus Protest gegen die ausgiebig praktizierte Todesstrafe oder die Foltergefängnisse von Guantánamo und Abu Ghraib die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA einzufrieren.
So hält die Regierung keineswegs das Monopol, wenn es um Politik und Doppelmoral geht. Und in der Sache einig ist man sich sogar, wenn es um uns unfreundlich gesinnte Regime oder gar Wirtschaftskonkurrenten geht. Etwa um den Einsatz der im Kalten Krieg weitgehend auf Meinungsfreiheit reduzierten und zur ideologischen Waffe umgeschmiedeten Menschenrechte als letzter zaghafter Einwand gegen die als bedrohlich empfundene Wirtschaftsmacht Chinas. In letztem Fall gehen die Ansichten lediglich darüber auseinander, wie weit der Langmut der Geschäftspartner auf der Weltausstellung von Shanghai ohne Beeinträchtigung der Handelsbilanz strapaziert werden sollte.
Beim Thema Politik, Moral und Revolution scheinen sich folglich sowohl Regierung wie Menschenrechtsfreunde mit dem großen Reaktionär Chateaubriand einig, der – mit Blick auf eine andere, die Französische Revolution – in einem Vorwort zu seinem Essai historique, politique et moral sur les révolutions anciennes et modernes klagte: „Le coup de canon dont on refuse quelquefois d’appuyer une cause juste, tôt ou tard on est obligé de le tirer dans une cause déplorable.“